Von Ulrike Cordes
„Ich kann nicht glauben, dass die Chinesen die Wahrheit über ihr Leben mit ins Grab nehmen“, schreibt Xinran zum Einstieg in ihr Buch „Gerettete Worte“. Es liege wohl am Jahrtausende alten Prinzip der Sippenhaftung, dass die Menschen ihres Heimatlandes ihre ureigenen Gefühle und Gedanken kaum jemals über die Lippen brächten, aus Furcht, ihren Nächsten damit zu schaden. Doch Xinran, 1958 in Peking geborene und heute in London lebende anerkannte Schriftstellerin und Journalistin, wollte die Wahrheit: die Erlebnisse und Erfahrungen der Chinesen, die heute alt sind – die noch das vor-maoistische China, die Gründung der Volksrepublik 1949, die Aufbaujahre und die Kulturrevolution mitgemacht haben. Über diese äußerst harten Zeiten herrsche in den Familien heute Schweigen und Unverständnis. Jüngere, verwöhntere Generationen fragten nicht nach. Und auch im Ausland wisse man darüber fast nichts.
In ihrer hoch spannenden Sammlung „Gerettete Worte - Reise zu Chinas verlorener Generation“ legt Xinran jetzt eine Auswahl einfühlsam geführter Interviews mit zumeist einfachen Männern und Frauen sowie einigen Intellektuellen auf Deutsch vor. Ob Medizinfrau oder Flickschusterin, Akrobatin oder Laternenmacher, Generalin oder Polizist: Sie alle öffneten sich der Autorin und ihrem jungen Team in erstaunlich persönlicher Weise. Was sie zu sagen haben, wirkt zumal auf westliche Leser wie ein Schock: Das Ausmaß der Opferbereitschaft und Entbehrungen dieser Chinesen erscheint fast unvorstellbar. „Wir sehnten uns alle danach, dem Vaterland unsere Jugend zu opfern“, formuliert eine Erdölforscherin, die in der Wüste Gobi tätig war. „Hunde hassen doch ihr Zuhause nicht, weil es dort ärmlich zugeht“, sagt eine mit dem Nationalpreis ausgezeichnete Artistin.
Schinderei ohne nennenswerte Bezahlung auf Feldern und in Betrieben, Hunger und Hungertod, kalte Nächte in primitivsten Behausungen oder gar auf dem nackten Erdboden, vermittelte Eheschließungen mit beinahe Fremden und Kinder, um die man sich nicht kümmern durfte, Lügen und brutale Willkür der Obrigkeit sind Themen, die in fast jedem Lebensbericht vorkommen. Gejammert wird jedoch von keinem der Gesprächspartner: Vielmehr gibt es immer wieder die Äußerung, dass ihre Anstrengungen zwar enorm, doch am Ende lohnend gewesen seien, da sie den heutigen relativen Wohlstand erst ermöglicht hätten. Selbst gegenüber Mao als Urheber aller radikalen Umwälzungen samt der Verfehlungen klingt letztlich nicht Bitterkeit an, sondern Anerkennung seiner Befreiungsleistung. Den Hass der alten Menschen haben sich augenscheinlich dessen Kader und willige Helfer zugezogen, die als inkompetent und korrupt geschildert werden.
Wie immer ist es schwierig, ein Buch aus und über China wirklich einzuordnen. Doch wirken die Geschichten, die Xinran hier nach zwanzigjähriger Recherche zu Papier gebracht hat, insgesamt so wahrhaftig und unter die Haut gehend un-erhört, dass sie dem Verständnis des riesigen, geheimnisvollen Reichs der Mitte sehr dienlich scheinen. Nicht so sehr überzeugt die Autorin dagegen in einzelnen Passagen, in denen sie explizit für die chinesische Regierung wirbt - hier wäre weniger mehr gewesen.
Literaturangabe:
XINRAN: Gerettete Worte. Reise zu Chinas verlorener Generation. Droemer Verlag, München 2009. 233 S., 19,95 €.
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