Das Programm ausgewählter Werke der Reihe Fischer Klassik reicht von der griechischen Antike bis ins 20. Jahrhundert, schließt literarische, aber auch philosophische Texte ein und widmet sich auch einzelnen Genres—Gedichten oder Balladen – , deren Entwicklung vom Mittelalter bis zur klassischen Moderne vorgeführt wird.
Aus der deutschen Romantik liegen bereits Einzelbände mit dem „Taugenichts“ und dem „Marmorbild“ von Eichendorff, dem „Sandmann“ und dem „Fräulein von Scuderi“ von E. T. A. Hoffmann, den „Kinder - und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, dem „Kalten Herz“ und anderen Märchen von Wilhelm Hauff, aber auch dem „Michael Kohlhaas“ von Kleist und dem „Buch der Lieder“ von Heine vor. Jetzt sind gesammelte Werke von Novalis und die Märchen und ausgewählte Gedichte von Brentano hinzugekommen. Nun fehlen aus dem Umkreis der Romantik eigentlich nur noch ausgewählte Werke von Tieck, Achim und Bettina von Arnim, Fouqués „Undine“, der „Peter Schlemihl“ sowie ausgewählte Gedichte von Chamisso, vielleicht auch eine Auswahl aus „Des Knaben Wunderhorn“ und die gemeinhin zwischen Klassik und Romantik eingeordneten Dichter Hölderlin und Jean Paul.
In Clemens Brentano hat sich die Romantik vielleicht am sinnfälligsten verkörpert. Er war ein unstet-genialischer, fantasievoller Mensch, der nirgends Ruhe fand, beschenkt mit vielseitiger Begabung, aber oft, wie er selbst sagte, im „unversöhnlichen Kampf mit dem eigenen Dämon“. Brentano sah in der Arabeske ein Formprinzip, das weit über dekorative Ornamentik hinausgeht und in besonderer Weise die symbolisch-bildliche Darstellung künstlerischer Empfindung zu leisten vermag. Ähnlich der arabesken Bewegung in ihrem endlosen, wuchernden Weiterschreiten in der Malerei—in Runges Arabeskenmalerei etwa—steigert der Titelheld Dilldapp in Brentanos Märchen seinen beiläufigen Beginn zu einer grotesken Hetzjagd. Das Laufen verselbststständigt und vergrößert sich in fantastischen Verschlingungen, selbst Metaphern werden überrannt. Indem die Sprachbewegung die normale Ordnung verlässt, gewinnt sie einen tieferen Sinn.
Wirklichkeit und Traum gingen in Brentanos Denken und Fühlen ineinander über. In seinen Gedichten finden sich Bekenntnisse in einfachen, klaren Worten, auch Monologe, in denen sich seine innere Spannung entlädt. Viele seiner Lieder sind voller Musik und voll bezauberndem Wohllaut in ihrer Bekundung von Sehnsucht, Traum und Liebe. So etwa die Gedichte „Was reif in diesen Zeilen steht“, „Sprich aus der Ferne“, „Hör, es klagt die Flöte wieder“, „Säusle, liebe Myrte“, die man alle in dem vorliegenden Band finden kann.
Auch in seine Märchen und Erzählungen sind viele Gedichte eingefügt. Die Stoffe seiner Märchen vermittelten ihm einmal der Rheingau mit seinen Sagen („Rheinmärchen“) sowie des Vaters Heimat Italien, wo er dem „Pentamerone“ des Neapolitaners Giambattista Basile von 1634 Vorbilder entnahm („Italienische Märchen“). Zwei „Rheinmärchen“ enthält die Ausgabe, und zwar „Das Märchen vom Murmeltier“ und „Das Märchen vom Schneider Siebentot auf einem Schlag“, während aus den „Italienischen Märchen“ „Das Märchen von dem Dilldapp“, „Das Märchen von Fanferlieschen Schönefüßchen“, „Das Märchen von dem Schulmeister Klopfstock und seinen fünf Söhnen“, „Das Märchen von Gockel und Hinkel“ und „Das Märchen von Komanditchen“ aufgenommen wurden.
Das wohl berühmteste Märchen Brentanos ist das schöne Tier- und Waldmärchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia (erste Fassung 1811, Überarbeitung 1838), und es war wohl richtig, dass die Urfassung zugrunde gelegt wurde, denn die wild wuchernden Spracharabesken der Spätfassung haben den ursprünglichen Umfang auf das Vierfache aufgetrieben. Brentanos Märchen verloren in der Überarbeitung an Naivität, wurden mehr ein Gefäß geistvoller Kombination und Ausdruck seiner inneren Spannungen. Zugleich aber gaben sie ihm Gelegenheit, Fantasie und graziösen Witz zu entfalten.
Der Erzählkern von „Gockel und Hinkel“ entstammt auch aus dem „Pentamerone“ von Basile, doch entwickelt Brentanos Nacherzählung daraus ein kompliziertes Gewebe, das den Konflikt zwischen guten und bösen, welterfahrenen und leichtsinnigen Menschen auf der Tierebene widerspiegelt und an der Rückgewinnung des verlorenen Glücks eine unübersehbare Schar von Tierhelfern beteiligt. Brentano rückt Alektryo, den bei Basile recht nebensächlichen Haushahn, in den Mittelpunkt und stilisiert ihn zu einem Symbol männlicher Tugend, Tatkraft, Weitsicht und Wachsamkeit. Als Stammhahn eines Adelsgeschlechts verkörpert er die Kontinuität im sozialen Zusammenhang. Gemäß einem „Unmöglichkeitstopos“ darf er getötet werden, wenn er es selbst verlangt.
Die derbe Fabel des Basile-Märchens wollte Brentano ins Kindlich-Verständliche rücken. Einfühlungsgabe und Sprachfantasie dominieren, da gibt es nichts Philosophisch-Hintergründiges, keine Zukunftsspekulationen und nichts Paradoxes. Die Vorgänge erfolgen in einer einfachen zeitlichen Ordnung—zuerst, später, dann. Es ist Kinderzeit, in der man von Ereignis zu Ereignis hüpft und weder nach Stunden noch nach Ewigkeiten zählt. Die Mäusestadt aus holländischem Käse mit den schönsten Gärten von Schimmel, die Eierburg in Gelnhausen, die die Gestalt einer brütenden Henne hat, sind nur witzige Abziehbilder unserer eigenen Umwelt, in die Architektur einer anderen Bevölkerung übertragen.
Die Figuren sind Typen mit typischen Tugenden und Lastern. Der Name gibt ihnen die Maske mit, unter der sie auftreten und handeln. Sie leben ganz einfach neben uns in Gelnhausen. Es sind durch ihre Namen leicht erkennbare Marionettenfiguren eines romantischen Märchentheaters. Doch beibehalten ist die Erzähltechnik des naiven Märchens. Der Erzähler versichert, dass er mit dabei gewesen wäre. Alle Märchentiere spielen mit, in ihnen steckt ein menschliches Herz und ein kluges Hirn, sie sind ja nur verzauberte Menschen. Ein kunstvolles und oft auch gekünsteltes Spiel, das auf einer ganz anderen Ebene beginnt und nicht mehr auf den naiven Voraussetzungen des Volksmärchens beruht.
Dass Brentano indessen auch den schlicht-realistischen Ton beherrscht, zeigt sich in der „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ (1817), über der die wehmütige Stimmung eines Volksliedes liegt. Es ist nicht ganz verständlich, dass gerade diese tragische Dorfgeschichte, die durch den volkstümlichen Berichtsstil gemildert wird, in dem Band fehlt. Heinz Rölleke hat der Brentano-Ausgabe eine schöne, fassbare „Nachbemerkung“ beigegeben, in der allerdings auch jeder Hinweis auf die Geschichte von Kasperl und Annerl fehlt.
Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, kam aus dem schlesischen, herrnhutischen Pietismus. Er war die zarteste und zugleich universalste Gestalt der frühen Romantik. Sein Interesse galt gleichermaßen der Poesie, der Philosophie und Naturwissenschaft. Als Poet gehörte er nach einem Wort Schleiermachers zu jenen seltenen Dichtern, „die ebenso tiefsinnig sind als klar und lebendig“. Wo es bei Brentano um Sprachspiele geht, geht es bei Novalis um Denkspiele.
Glaubens- und Liebeskraft erschlossen ihm den Zugang zu der von lebendigem Geheimnis durchwirkten Welt. Das Sterben seiner jungen Braut Sophie von Kühn gab seinem Denken und Empfinden eine ganz bestimmte Richtung: Er fühlte sich mit der Geliebten über den Tod hinaus verbunden, der ihm die Erlösung zum wahren, höheren Leben, zum Einklang mit dem gotterfüllten Kosmos bedeutete. Die „Hymnen an die Nacht“ (1800) künden davon, dass schon im diesseitigen Leben die Weihe eines höheren Daseins erfahren werden kann. „Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht. Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der Brust weht tiefe Wehmut. In Tautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen.—Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kindheit Träume, des ganzen langen Lebens kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach der Sonne Untergang. In andern Räumen schlug die lustigen Gezelte das Licht auf. Sollte es nie zu seinen Kindern wiederkommen, die mit der Unschuld Glauben seiner harren?“ Die Nacht verwischt alle Grenzen, sie vermählt den Menschen auf mystische Weise mit der Gottheit. Der Tod hat seine Schrecken verloren.
Ausdruck eines „magischen Idealismus“, wie Novalis seine Weltanschauung nannte, ist sein unvollendeter Roman „Heinrich von Ofterdingen“ (entstanden 1799), mit dem er ein romantisches Gegenbild zu Goethes Erziehungsroman „Wilhelm Meister“ schaffen wollte. So sehr er diesen als Kunstwerk bewunderte, so prosaisch erschien er ihm in seiner Beschränkung auf die diesseitige Wirklichkeit. Der „Wilhelm Meister“ war für ihn nur „eine poetisierte bürgerliche und häusliche Geschichte“, in der die Ökonomie über die Poesie, das Materielle über den Geist regiere. Novalis aber forderte: „Die Welt muss romantisiert werden“.
Heinrich von Ofterdingen soll nach mittelalterlicher Sage als Spruchdichter auf der Wartburg vor dem Landgrafen Hermann von Thüringen in den Wettstreit mit Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach getreten sein und auch Beziehungen zu Klingsohr, dem Meister magischer Wissenschaft, gehabt haben. Novalis’ Roman hat nur wenig Handlung. Er sollte aus den zwei Teilen „Erwartung“ und „Erfüllung“ bestehen, aber nur der erste Teil ist ausgearbeitet. Heinrich ist der Sohn eines Eisenacher Bürgers. Die „blaue Blume“ weckt Sehnsucht in ihm. Von der Mutter begleitet, reist er nach Augsburg. Unterwegs wird er durch tiefsinnige Unterhaltungen und Träume in das Geheimnis von Natur und Geschichte eingeführt. In Augsburg lernt er den Dichter Klingsohr kennen. Dessen Tochter Mathilde erscheint ihm als verkörperte Poesie. „... aus ihren großen ruhigen Augen sprach ewige Jugend. Auf einem lichthimmelblauen Grunde lag der milde Glanz der braunen Sterne … Ihre Stimme war wie ein fernes Echo …“ Mit einem romantischen Märchen, das Klingsohr erzählt, schließt der erste Teil.
In klangvoller Sprache hat Novalis in diesem symbolischen Roman die Grenzen von Wirklichkeit und Märchen geöffnet. Alles ist von geistigen Kräften durchwaltet, alles steht in geheimnisvollem Zusammenhang mit dem Kosmos. Der Dichter ist der eigentliche Mensch, denn er versteht die Sprache aller Dinge und erkennt den seelenhaften Grund der Wirklichkeit. Seine Entwicklung, die das Thema des Romans ist, steht unter dem Zeichen der Sehnsucht nach romantischer Lebenserfüllung, für die Novalis das Sinnbild der „blauen Blume“ verwendet. Im Traum hat Heinrich sie zum ersten Male gesehen, ein Symbol der Weltenkräfte Poesie und Liebe. In Mathilde fand er sie verkörpert, an ihrer Seite sollte er—in der geplanten Fortsetzung—König in jenem verklärten Reich sein, dem sich der Dichter als Verwandler und Erlöser der Welt zugehörig fühlt.
Im Fragment „Die Lehrlinge zu Sais“ (1798) erscheint ein Kind eines Tages unter den Lehrlingen, dem der Lehrer sogleich „den Unterricht übergeben“ will. Das Wesen dieses Kindes, das wie ein Abgesandter einer höheren Wirklichkeit auftritt, ist in den einzigen Satz gefasst: „Es lächelte unendlich ernst.“ Der Lehrling, nicht zur Begleitung des Kindes auserwählt, muss einen eigenen Weg finden. Die in dem „Natur“ überschriebenen Teil des Fragments vorgetragenen Ansichten über das Verhältnis von Natur und Mensch verwirren ihn aber nur. Seine Ratlosigkeit soll nun das Märchen von Hyazinth und Rosenblüte beenden.
Dieses Märchen handelt von der inneren Reifung des fragenden, wissbegierigen und sehnsuchtsvollen Menschen, der seiner Kindheit entwachsen und seinem Einverständnis mit der Natur und seiner unschuldigen Liebe zu Rosenblüte entfremdet ist. Hyazinth gewinnt die Freiheit, „die Mutter aller Dinge“, „die verschleierte Jungfrau“, zu suchen, erst, nachdem eine „alte wunderliche Frau“ das sein Leben bis dahin bestimmende Buch, Abschiedsgeschenk eines fremden Lehrers, verbrannt hat. Er durcheilt nun sämtliche Naturformationen und liest hingebungsvoll in dem allerorten aufgeschlagenen Buch der Natur, überall nach der Göttin Isis fragend. Ein Traum führt ihn in das Innerste ihres Tempels. Indem er ihren Schleier hebt, sinkt ihm Rosenblütchen in die Arme. Nun hebt eine traute Zeit an, denn „alles Fremde“ ist verbannt.
In der Sammlung „Geistliche Lieder“ (entstanden 1799) ist die Erinnerung an die Tage frommer Kindheit im pietistischen Vaterhaus spürbar. Das Drüben und das Hier gehen ineinander über. Sophie von Kühns Bild verwandelt sich in das Bild der Maria und erfüllt den Dichter mit Seligkeit: „Ich sehe dich in tausend Bildern, / Maria, lieblich ausgedrückt, / Doch keins von allen kann dich schildern, / Wie meine Seele dich erblickt.“ In konzentrierter Form hat Novalis seine Anschauungen in den aphoristischen Fragmenten ausgesprochen, deren erste Sammlung er unter dem Titel „Blütenstaub“ im „Athenäum“ veröffentlichte. Das Schlüsselwort lautet: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft.“
Der Herausgeber Hans Jürgen Balmes hat Materialien zu den „Lehrlingen zu Sais“ und zum „Heinrich von Ofterdingen“ beigegeben, Entwurfsblätter und Fragmente des Dichters wie auch einen Bericht Ludwig Tiecks über die Fortsetzung des „Ofterdingen“, die erahnen lassen, welch geistigen Kosmos der Dichter hier vor Augen gehabt hatte. Neben Daten zu Novalis’ Leben und Werk beschließt eine instruktive und übersichtlich angelegte „Nachbemerkung“ den Band.
Von Klaus Hammer
Literaturangaben:
BRENTANO, CLEMENS: Märchen. Ausgewählte Gedichte. Hrsg. von Heinz Rölleke. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2009. 378 S., 9,50 €.
NOVALIS (Friedrich von Hardenberg): Gesammelte Werke. Hrsg. von Hans Jürgen Balmes. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2008. 527 S., 12,00 Euro.
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