Von Marco Gerhards
Günter Mühlpfordt war, wie viele Intellektuelle der ehemaligen DDR, nicht gewillt, sich dem totalitären System zu unterwerfen, sich ideologisch, programmatisch und inhaltlich Ulbrichts und Honeckers bauernstaatlichem Verlogenheitsideal anzubiedern, Teil des kollektiven Verdrängens und Anpassens zu werden. Mühlpfordt war Historiker an der Martin-Luther-Universität zu Halle und wurde 1959 von Gleichschaltungsorganen der Deutschen Demokratischen Republik im wahrsten Sinne des Wortes vertrieben, 1962 sogar mit dem Lehrverbot belegt – einem Bann, der manch einen die Karriere, vielleicht sogar das Leben kostet.
Nicht so Mühlpfordt. Der schaffte es, unter teilweise abenteuerlichen Umständen, auch während der 1970er und 1980er Jahre akademische Publikationen im europäischen und amerikanischen Ausland zu veröffentlichen, den politischen Irrsinn seines eigenen Landes zu überleben, um folgerichtig von 1990 an mit einer Reihe hochrangiger, wissenschaftlicher Auszeichnungen belegt zu werden.
Die vielleicht schriftlich gewaltigste Ehrerbietung liegt in der, mit dem siebten Band nun abgeschlossenen, Festschrift des Herausgebers und Kollegen Erich Donnert vor. „Europa in der frühen Neuzeit“ ist überbegrifflicher Kanon und Programm dieser Festschriftreihe, die 1992 begann und mit diesem Band abgeschlossen ist. Die Wörter wollen nicht gezählt werden, aber immerhin 6.000 Seiten haben sich zur Verfügung gestellt, in die Statistiken einzugehen. Der abschließende Band bringt es auf 1.248 Seiten und ist damit der größte des Kompendiums, was auch daran liegt, dass er ein komplettes Personenregister der gesamten Festschriftreihe beinhaltet.
Das Hauptaugenmerk dieser Schrift liegt, im Vergleich zu den früheren Ausgaben, auf unbekannten Quellen und marginalen Aufsätzen, vereinfacht gesagt, auf schriftlichen Quellen, die auf den ersten Blick gar nicht so interessant oder spannend erscheinen und keinen entscheidenden Anteil an der uns bekannten Weltgeschichte gehabt haben können. Oder doch? Schwer vorstellbar, dass deutsche Forscher, die Sibirien bereisten und darüber ihre persönlichen Notizen in Lehrbüchern verfasst haben, dass das unbekannte Tagebuch eines ebenso unbekannten Jägers aus den Befreiungskriegen von 1814 oder die deutsche Ausgleichsmundart, das Rhönfränkisch, in persönlichen Überlegungen betrachtet, so ungemein wichtig sein müssten.
Viel wichtiger ist jedoch der moderne Ansatz, der darlegt, wie Geschichte hier beschrieben und verstanden werden kann. Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Geistes- und Sozialhistorie, mit den Mühlpfordts Arbeitssujets entsprechenden Schwerpunkten in Mittel- und Osteuropa. Keine Politik, keine großen Männer, keine Ausbeutung, keine selbstverständliche Einnahme, keine arrogante Annahme – dies ist nicht unbedingt immer wichtig und zum Teil ist es sogar ziemlich langweilig, was uns die Autoren hier präsentieren, aber wenigstens offen und mit einer ganzen Menge Spielraum. In einem richtig feurigen Artikel der „FAZ“ wurde neulich Ulrich Wehlers abschließender Band seiner Gesellschaftsgeschichte ob seiner diktatorischen und penetranten Rechthaberei zerrissen. Geschichte mit dem Anspruch der ach so modernen Bielefelder Schule verkomme, so der kritische Autor, in ihrem narzisstischen Spiegelbild.
Ganz anders Donnerts Festschrift: Da wird die Quelle, die Person, der persönlich konnotierte Aufsatz heutiger Wissenschaftler für sich selbst genommen, fließt so, wie er fließen möchte. Was kann der Jäger denn dafür, dass er am Kriege teilnimmt? Was kann der österreichische Kameralist dafür, dass er die Sitten des Oberrheins im 18. Jahrhundert bei persönlichen Besuchen aufschreibt und gar nichts von Mord und Gewalt, von Sex und Alkohol berichtet, sondern einfach nur von der Größe der Städte, der Auf- oder Zugeschlossenheit der Bewohner und wie diese ihren Lebensunterhalt besorgen. Das ist Geschichte also, wie sie wirklich gewesen ist – geleistet wird ein ganz wichtiger Beitrag zur Erforschung modern betrachteter Annalen, die den Leser mit ihrem fast schon naiven und bescheidenen Anspruch und den resultierenden luftleeren Folgen alleine lässt und alleine lassen will.
Wenn Herausgeber Donnert selbst in einem seiner Beiträge sich freimütig zu der Überschrift „Marginalien zur Freimaurerei im Baltikum“ hinreißen lässt, sollte offenkundig werden, wie sehr hier Selbsteinschätzung und bisher unbetretenes historisches Terrain verschmelzen.
Egal ob nichtige Gesangbuchherausgeber, die St. Petersburger Fröbel-Gesellschaft oder Briefe von Rudolf Virchow an seine Frau zum Thema deutsch-russische Beziehung, überall wird die scheinbare Unbedeutsamkeit offensichtlich, die wir mit dem gewohnt geschulten, akademisch längst fest gefahrenen Blick auf die Welt werfen. Allein dieser Band wird die Universität nicht ändern, wird es gar nicht wollen, dass das 19. Jahrhundert von nun an primär in den Schriften eines unbekannten Jägers erinnert werden wird, aber der Spielraum wird durch solch offenes Vorgehen massiv erweitert.
Bevor wir abschließend in eine vollkommene Freiheitslaudatio einstimmen, eine kleine kritische Anmerkung zur verlagsinternen Lobhudelei, man hätte für die fast 400 Beiträge der gesamten Festschrift 350 Autoren aus drei Erdteilen und 26 Ländern verpflichten können. Welche Erdteile und 180 Länder hier ausgelassen wurden, können sie sich als Leser aus einem der exklusiven Wohlfahrtsstaaten sicher denken, das Ganze hat also nichts mit Globalisierung und wissenschaftlicher Vernetzung zu tun, sondern ist politische Hegemonie, die wir den Autoren und den Herausgebern zumindest nicht unterstellen wollen. Besser wäre allerdings gewesen, im Sinne der hier zumindest inhaltlich so hervorragend anderen Geschichtsschreibung, sich in der Einleitung nicht mit den drei Erdteilen und amerikanischen und schweizerischen Verfassern zu rühmen, sondern stattdessen zu bedauern, dass es in den 51 Staaten Afrikas leider immer noch keinen anerkannten Historiker gibt, der seinen Beitrag zu dieser umfassenden Schrift leistet.
Trotz dieser Träne ein spannendes Freudenmeer, was aufgrund seiner verwandelnden Beiträge, seiner Struktur, die sich ausschließlich an der Quelle und nicht am Ereignis orientiert, Experten und Laien gleichermaßen ansprechen wird. Hoffentlich entwickelt sich aus dem einen oder anderen Beitrag etwas ganz Eigenes, Neues, Spannendes. Es wäre der Weltgeschichte zu wünschen.
Literaturangaben:
DONNERT, ERICH (Hrsg.): Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 7: Unbekannte Quellen, Aufsätze, Personenregister der Bände 1-7. Böhlau Verlag, Köln/Weimar 2008. 1242 S., 89,90 €.
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