MÜNCHEN (BLK) – In seiner Erzählung „Das wilde Kind“ geht T.C. Boyle auf die Suche nach der Grenze zwischen Mensch und Tier. Die Handlung greift das Schicksal des berühmten „Wolfkinds“ Victor von Aveyron auf, das Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur in Frankreich für Ausehen sorgte.
„Das wilde Kind“ ist alles andere als eine schlechte Geschichte, ganz im Gegenteil, es ist sogar eine richtig gute Erzählung, die es versteht, den Leser in das Frankreich des 19. Jahrhunderts zu entführen. Aber es ist eben keine Boyle’sche Story. Boyles letzter Erzählungsband hieß noch „Zähne und Klauen“, dieser Geschichte fehlen selbige aber fast völlig.
Klappentext: Ein Mensch? Ein Tier? Oder irgendetwas dazwischen? Neben Kaspar Hauser war Victor von Aveyron der berühmteste Fall eines "Wolfskinds". Eine nackte Kreatur, die sich, in Südfrankreich von Jägern entdeckt, auf einem Baum versteckt. Er kann nicht sprechen, isst Nüsse und Wurzeln und verabscheut gekochte Speisen. Ist sein merkwürdiges Verhalten kulturell oder biologisch bedingt? Ist der Mensch - frei nach Rousseau - von Natur aus gut, oder prägt erst die Erziehung sein Wesen? Boyle, der in den USA lebende Autor, hat sich dem Fall Victor von Aveyron angenommen. In seinem zutiefst ergreifenden Porträt eines Wolfskindes geht er der subtilen Grenze nach, an der sich entscheidet, wer Mensch und wer Tier ist.
Der amerikanische Bestseller-Autor Tom Coraghessan Boyle wurde am 02.12. 1948 in Peekskill, NY geboren. Er unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles. Nach seiner Kindheit in schwierigen Familienverhältnissen und ausschweifenden Jugendjahren in der Hippie- und Protestbewegung der 60er Jahre, lebt er heute mit seiner Frau und drei Kindern in Kalifornien.
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Im ersten heftigen Herbstregen, als die Blätter wie Münzen zu Füßen der Bäume lagen und die Zweige schwarz vor einem tiefhängenden Himmel glänzten, kehrten einige Männer aus dem Dorf Lacaune in der Languedoc frierend und nass und ohne Beute von der Jagd zurück, als sie vor sich im trüben Licht eine menschliche Gestalt erblickten. Es schien sich um ein Kind zu handeln, um einen vollkommen nackten Jungen, dem Kälte und Regen offenbar nichts ausmachten.
Er war mit etwas beschäftigt – wie sich herausstellte, hatte er Eicheln zwischen zwei Steinen geknackt – und bemerkte die Männer zunächst nicht. Doch dann trat einer – Messier, der Dorfschmied, dessen Hände und Unterarme durch die harte Arbeit so dunkel geworden waren wie die eines Indianers – in ein Loch, verlor das Gleichgewicht und stolperte ins Blickfeld des Jungen. Die plötzliche Bewegung schreckte ihn auf.
Eben war er noch da und hockte über seinem kleinen Vorrat an rohen Eicheln, und im nächsten Augenblick war er mit der Gewandtheit eines Marders oder Wiesels im Unterholz verschwunden. Nachher war sich keiner der Männer ganz sicher – die Begegnung hatte nur Sekunden gedauert –, doch stimmten alle überein, dass die Gestalt auf allen vieren geflohen war.
Eine Woche darauf wurde der Junge abermals gesehen, diesmal am Rand eines Feldes, wo er Kartoffeln ausgrub und, ohne sie zu kochen oder auch nur abzuspülen, an Ort und Stelle hinunterschlang. Der erste Impuls des Bauern war, ihn zu verscheuchen, aber er hielt inne, denn er hatte Gerüchte von einem wilden Kind gehört, einem Kind des Waldes, un enfant sauvage, und schlich dann näher, um dieses Phänomen besser in Augenschein nehmen zu können.
Er sah, dass der Junge tatsächlich noch klein war, höchstens acht oder neun Jahre alt, und mit bloßen Händen und abgebrochenen Nägeln in der Erde wühlte wie ein Hund. Äußerlich schien er normal zu sein, er konnte seine Glieder und Hände gebrauchen und war zu geschmeidigen, selbständigen Bewegungen imstande, dabei aber erschreckend mager. Als der Bauer auf etwa zwanzig Meter herangekommen war, hob der Junge den Kopf und sah ihn an.
Wegen des wilden Haarschopfs, der ihm ins Gesicht hing, waren seine Züge nur schwer zu erkennen. Nichts regte sich, nicht die Schafe auf dem Hügel und nicht die Wolken am Himmel. Eine unnatürliche Stille lag über dem Land: Die Vögel in den Hecken hielten den Atem an, der Wind erstarb, ja selbst die Insekten verstummten. Dieser unverwandte Blick – die Augen, so schwarz wie frisch gebrühter Kaffee, das Fletschen bräunlich verfärbter Zähne – war der Blick eines Wesens aus dem Spiritus Mundi: fremd, gestört, hassenswert. Es war der Bauer, der sich abwenden musste.
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Literaturangabe:
BOYLE, T.C.: Das wilde Kind. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2010. 106 S., 12,90 €.
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