Von Andrea Barthélémy
Seine „Geschichten aus dem Speisewagen. Unterwegs in Deutschland“ verraten vor allem eines: Das Geheimnis, das Unerwartete und Interessante, das ganz andere Leben eben, sitzt einem oft unmittelbar gegenüber - man muss nur mutig sein, sich der Atmosphäre von Nähe und Flüchtigkeit hingeben, und zuhören.
„Am Anfang musste ich oft meine Schüchternheit niederkämpfen“, bekennt Körner. Den Ruck gab er sich trotzdem, zum Glück. Wie hätte er sonst den früheren DDR-Zirkusartisten kennengelernt, der sich nach Jahren als Fänger am Trapez schließlich ausgerechnet bei einem Autounfall im Trabi die Lendenwirbel brach. Oder den jungen Seemann, der mit der Bahn zur nächsten Weltreise per Frachtschiff antritt, auf eine Stelle als Kapitän hofft und darauf, dass seine Freundin weiterhin monatelang auf ihn wartet. „Wenn ich diesmal wiederkomme, mache ich ihr einen Heiratsantrag“, verspricht er.
Gestandene Geschäftsmänner berichten mit Tränen in den Augen von grausamen Vätern, Reinigungsfrauen offenbaren Philosophentalent und ältere Ehepaare pflegen Rituale, die ihnen über erlittenen Schmerz hinweghelfen. Körner hat ihnen allen Geschichten entlockt, in 1. und 2. Klasse, und natürlich im Speisewagen. Auch dem Mitropa-Personal, das mal einsilbig, mal wortreich, mal als bedrohliche „Service- Offensive“ parierte. Selbst der Drang und Gang zur Toilette bringt ein ganzes Kapitel voll Leben ins Buch.
Und auch Gespenster leben auf, vor allem während der Nachtfahrten. Irgendwann, beim dritten Glas Rotwein zwischen 1 und 2 Uhr, legt sich der Schleier des Fantastisch-Unwirklichen über die sonst so sehr Erwachsenen: Da erinnert sich einer an einen Traum seiner Kindheit, in der ein Zimmermann das Dach des Hauses im Feuersturm stemmt, und sich am nächsten Morgen zeigt, dass die Familie nur knapp dem Feuertod entkam. Und einem italienischen Musiker begegnete einst sogar der leibhaftige Paganini - als geigespielender Geist.
Grimme-Preis-Juror Körner, der sich bislang vor allem mit Biografien über Götz George, Franz Beckenbauer oder Heinz Rühmann einen Autorennamen machte, hat die Zeit im Zug genossen: „Das war beruflich gesehen das glücklichste Jahr meines Lebens.“ Weil er auf seinen Reisen schnell feststellte, dass die Redebereitschaft seiner Gegenüber versiegte, sobald er sein Buchprojekt vorstellte, recherchierte Körner bald nur noch anonym: Im Buch änderte er deshalb Namen, Geschlecht und auch Fahrtstrecken seiner Gesprächspartner, um sie nicht bloßzustellen. „Ich habe die Situationen verdichtet, aber es hat sie alle zu 100 Prozent gegeben“.
Seine Bilanz, mit Augenzwinkern, ist eine Liebeserklärung an den Speisewagen: „Deutschland ist ein Land voll gestellt mit Hochsitzen, die schönsten Frauen fahren 2. Klasse und wir alle sind unterwegs und warten auf den nächsten Zug.“
Literaturangabe:
KRÖNER, TORSTEN: Geschichten aus dem Speisewagen. Unterwegs in Deutschland, Scherz-Verlag, Frankfurt am Main 2010. 384 S., 18,95 €.
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