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Geschichtsstunde 1938: Ilse Tielschs „Das letzte Jahr“

Eine Kindheit in Tschechien

© Die Berliner Literaturkritik, 07.01.09

 

Von den vielen Achtern, deren vergangenes Jahr gedacht wurde, wird vielleicht die „8“ von 1938 für die meisten Deutschen nicht so ins Gewicht fallen wie 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution oder 1968 mit dem Prager Frühling, dem weltweitem Vietnamprotest und der Studentenbewegung.

Österreich hatte sich 1938 ans Deutsche Reich angeschlossen, und auch für mehr als drei Millionen Deutsche, Ungarn und vielen Millionen Tschechen, Slowaken, Juden sowie anderen Nationalitäten und Religionsgemeinschaften der Tschechoslowakischen Republik ÈSR wurde im Oktober 1938 alles anders. Das von den Regierungen von Italien, Deutschland, England und Frankreich beschlossene „Münchner Abkommen“ sollte das Land neu aufteilen und die Volksgruppen auseinanderdividieren.

Wer um diese Umstände nicht weiß, wird zunächst ganz unbefangen den Erzählungen der zehnjährigen Mährin in Ilse Tielschs „Das letzte Jahr“ lauschen: „Ich bin die Elfi Zimmermann. Ich bin ziemlich klein und mager und habe glatte braune Haare, die mir ins Gesicht hängen würden, wenn mir die Marschenka nicht jeden Morgen zwei feste Zöpfe flechten würde.“ (S. 5)

So ist denn auch auf dem Titelbild ein Mädchen mit zwei dicken Zöpfen zu sehen, die so bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts getragen wurden und heute bei manchen jungen Frauen und Mädchen auch wieder modern werden. Marschenka ist die gute, die tschechische Seele in dem deutschen Haushalt der Eltern von Elfi. Doch zu Beginn des Jahres 1938 spielt noch keine Rolle, wer wer ist und woher einer kommt.

Das wichtigste für das zehnjährige Mädchen zu erwähnen ist, „…daß ich seit ein paar Monaten ein Fahrrad besitze, das ich sehr liebe. Damit bin ich viel unterwegs, häufig auch ohne mich vorher bei meiner Mutter abgemeldet zu haben. Das ist aber nicht schlimm, weil mir in unserer sehr kleinen Stadt nicht viel passieren kann.“ (S.5) Dass ein Mädchen zu dieser Zeit ein eigenes Fahrrad besaß und damit weit herumfahren kann, ist ungewöhnlich und zeigt eine fortschrittliche Erziehung im Hause der Familie Zimmermann.

Es wird auch vom Oberlehrer Wessely erzählt, der im Verein „Verkühle dich täglich“ ist und im Winter im Schwimmbad Eis hackt und badet – und daher keinen Schnupfen bekommt. Erst in der nationalsozialistischen Besatzungszeit wirkt sein Name zu tschechisch, und er wird in Herrn Fröhlich umbenannt, was das Gleiche heißt.

Doch wie gesagt, am Anfang der Erzählung sind wir ganz auf dem Niveau des Kindes, das mit seinen Augen beobachtet und davon überhaupt noch nichts weiß. Erst mal berichtet, sortiert, kommentiert es, was die mitunter komischen Erwachsenen so alles treiben, ohne darauf zu achten, ob es Deutsche, Tschechen oder Juden sind. So hat Elfi sowohl Lilli, die jüdischen Glaubens ist, als auch Alenka, die tschechischer Abstammung ist, als Freundin.

Alenka geht auf die neue tschechische Schule, die erst nach dem Ersten Weltkrieg in der kleinen Stadt gebaut wurde, weil vor der Gründung der Tschechoslowakischen Republik kaum Tschechen dort gelebt haben. Aber die neue Schule, die später auch von den Deutschen benutzt wird, hat keinen Rundlauf in der Sporthalle, wie die Mutter bemängelt, was äußerst wichtig für die körperliche Entwicklung des Kindes ist. Deshalb soll Elfi froh sein, ohne ihre Freundinnen in die alte Schule gehen zu dürfen, die noch aus dem alten K.-und-K.-Österreich stammt.

Auch das Schwimmen gehen im Sommer ist äußerst wichtig für das Kind. Wenn das Schwimmbad aus dem Wasser des kleinen Flüsschens gespeist wird, dann wissen die Kinder, es ist Sommer und die großen Ferien beginnen.

Bis dahin erträumt sich Elfi ein Leben im Zirkus oder bei den Indianern, da hat sie sich noch nicht entschieden. Sie hat gehört, dass eine Großtante beim Zirkus Tänzerin geworden und nie wieder nach Hause gekommen sei. Das wäre doch was. Sie könnte ja auf ihrem Fahrrad Kunststücke üben und vorführen. Noch beschwingter als sonst rast sie den steilen Stadtplatz hinunter und im Schwung den Hügel zu den nächsten Dörfern, die mal von tschechisch sprechenden Menschen, mal von Deutschen bewohnt werden, wieder hinauf.

Auf jeden Fall will sie keine Kinder und nicht heiraten und weit weg in die Welt. Dann wäre doch das Leben beim Freund Winnetou in Amerika auch nicht schlecht. Vom „Schatz im Silbersee“ hat sie Kenntnis und von Old Shatterhand. Damit sie das alles heimlich unter der Bettdecke lesen kann, was sie sich in der Bücherei besorgt, leiht ihr die Marschenka ihre Taschenlampe und sorgt auch für den Nachschub an Batterien.

Überhaupt ist die tschechische Marschenka die große Freundin, die ihr die Welt erklärt. Natürlich nicht immer zur Freude der Mutter, zum Beispiel als Marschenka auf die Frage von Elfi, woran man Juden erkenne, behauptet: an roten Flecken. Als dann kurze Zeit später Elfi die Schafsblattern mit roten Flecken bekommt, ist die Aufregung und Sorge groß, ob sie jetzt nicht doch auch eine jüdische Großmutter habe. So allmählich bekommt Elfi mit, dass sich die Stimmung ändert.

Die jüdische Freundin Lilli und ihre Familie verschwinden. Es heißt, sie sind nach Ungarn weggezogen. Ohne Abschied zu nehmen. Elfi ist enttäuscht. Ob sie wiederkommen, weiß auch keiner. Die Eltern sind ebenfalls in Sorge und fahren Hals über Kopf nach Wien. „Von niemandem darf ich mich verabschieden, nicht einmal von der Alenka, und auch die Josefka darf ich nicht mehr besuchen. Die Marschenka bleibt da und wird auf die Wohnung aufpassen, mehr sagt man mir nicht.“ (S.153)

Immer wieder wird ihr bewusst, dass ein Kind bei der Entscheidungsfindung der Erwachsenen nicht zählt. Die Erwachsenen bestimmen, das Kind muss sich dem beugen. Schon deshalb will sie endlich erwachsen werden und weit weg in die Welt.

Doch Wien stellt sich nicht als so toll heraus, wie alle behauptet haben. Die Großtante Marie in Floridsdorf ist nicht begeistert von den neuen Mitbewohnern in ihrem Eisenbahnersiedlungshaus. Nach einer Weile meint sie: „Wir sollen nicht so ein Theater machen, der Hitler ist gar nicht so schlecht und wir sollen froh sein, daß wir jetzt zum Reich gehören, wo alles besser ist als bei uns…es gibt keine Arbeitslosen mehr und die Juden, die früher angeblich alle so viel Geld verdient haben, daß den anderen nichts geblieben ist, sind weg. Und die Tschechen können auch zufrieden sein, ihr Land ist ihnen ja geblieben, es ist nur ein bißchen kleiner geworden.“ (S. 155f.)

Als sie nach Hause kommen, ist die Marschenka, die alles schön aufgeräumt und zugesperrt hat, verschwunden. Sie hat einen Zettel hinterlassen, dass sie in ihrem tschechischen Dorf Tarowitschky bleiben wird. „Meine Mutter will sich darüber aufregen, aber der Vater sagt, daß sie sich das hat doch denken können. Die Marschenka, sagt er, ist eine brave Person, aber sie ist eine Tschechin, die will jetzt nicht mehr bei uns arbeiten, weil wir doch Deutsche sind. Das, sage ich, sind wir doch früher auch gewesen. Ja, sagt der Vater, aber jetzt ist das anders. Außerdem ist Tarowitschky in der Tschechoslowakei und unsere Stadt gehört jetzt zum Deutschen Reich, zwischen unser Stadt und Tarowitschky ist jetzt eine Landesgrenze, die es vor unserer Abreise nach Wien noch nicht gegeben hat.“ (S. 157)

Das Kind muss jetzt große Umwege um die Grenze machen. Auch zu ihrer Freundin Josefka kann sie nicht mehr radeln. „Pipinko, sagte die Josefka, ich bin eine Tschechin und du bist ein deutsches Kind, das ist jetzt ein großer Unterschied.“ Der Laden der jüdischen Geschäftsfrau Hirsch, wo sie immer den leckeren Schinken für Vaters Frühstück besorgt hatten, ist zertrümmert worden. Auch die anderen jüdischen Bewohner der Stadt sind in der Zwischenzeit ins Tschechische oder nach Ungarn gezogen.

Auch die Sprache ändert sich, als die Deutschen in die Stadt eingezogen sind. Der Topfen heißt bei ihnen Käse, also Käsekuchen, Tomaten statt Paradeisern, Sahne statt Schlagobers, Zwetschken sind Pflaumen, Karfiol heißt Blumenkohl. „Wenn man nicht gleich versteht, was sie wollen, sagen sie, sie hätten gedacht, daß wir deutsch sprechende Leute sind, und einer soll gesagt haben, daß uns wahrscheinlich die Tschechen unsere deutsche Muttersprache schon ganz verdorben haben und daß wir sie erst wieder richtig lernen müssen.“ (S. 160f.)

Neben der reinen deutschen Sprache wird jetzt auch die Reichsmark eingeführt und die alten Höflichkeiten verlieren sich, und man grüßt sich nur noch mit „Heil Hitler“. Das Land heißt nicht mehr Mähren, sondern Niederdonau und gehört zur Ostmark und alles gehört zum Deutschen Reich.

In all den Veränderungen ist die Veränderung, dass Elfi nun mit ihrer Freundin Alenka in einer Klasse sein kann, die beste. Endlich können sie nebeneinander sitzen und flüstern und gemeinsam von der Zukunft träumen. „Und dann sagt sie mir noch, daß sie froh ist, daß wir Freundinnen sind. Das bin ich auch, sage ich, und schenke ihr den neuen Radiergummi, den mir meine Mutter in Wien gekauft hat und mit dem man auch Tintenblei wegradieren kann. Dann geben wir uns unter der Bank ganz fest die Hand und es geht mir wieder ganz gut. Wenn wir groß sind, sagt die Alenka, gehn wir zusammen nach Amerika und helfen den Indianern.“ (S. 166)

Die Zukunft sah dann doch anders aus. Dieses Buch zeigt auch, wie ungerecht es gewesen ist, alle Deutschen – auch die wohlwollenden und die Freunde der Tschechen – nur aufgrund ihrer deutschen Abstammung  gemäß der Beneš-Dekrete nach 1945 auszubürgern. Dieses intelligente und lebendige Buch eignet sich wunderbar als Geschichtsbuch für Kinder. Trotz der Trauer über den Verlust ihrer Heimat und ihrer Kindheit, die Ilse Tielsch in dem Gedicht „Frühling“ beschreibt: Ein neues Fahrrad hat sie sich auch in der neuen Heimat gekauft.

Frühling

Die Kirschbäume blühen

die Weinstöcke treiben aus

ich habe mein Fahrrad

mit bunten Netzen bespannt

im Haus gegenüber

spielt mein Vetter die Geige

Großvater prophezeit uns

ein gutes Jahr

Jetzt werde ich wieder

über die Hügel gehn

nachts im Traum

mein Vetter geigt schon

lange nicht mehr

Großvater hat man

in Röthenbach begraben

das liegt in Franken

wie ist er dorthin gekommen

über den Weinberg führt

eine Autobahn

ich habe mir wieder ein Fahrrad gekauft

die bunten Netze gibt es nicht mehr

wie bin ich hierhergekommen

wie sind wir alle dorthingekommen

wo wir jetzt sind

Literaturangaben:
TIELSCH, ILSE: Das letzte Jahr. Edition Atelier, Wien 2006. 167 S., 20 €.

Verlag

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