INNSBRUCK (BLK) – Im Juli 2010 ist im Hamon Verlag eine Peter Handke-Biograhie von Malte Herwig unter dem Titel „Meister der Dämmerung“ erschienen.
Klappentext: Spannend wie einen Thriller und mit psychologischer Tiefe entfaltet Lydia Mischkulnig die dramatische Geschichte einer fatalen Schwesternbeziehung und der gravierenden Folgen von sexueller Gewalt: Als Kinder sind Marie und Renate unzertrennlich. In einer Familie, die geprägt ist von Verlust und Misstrauen, schafft Renate für ihre Schwester eine eigene Welt aus der Sehnsucht nach Unversehrtheit und Glück. Doch dann, Jahre später, tritt Paul in das Leben der Mädchen und spaltet ihre vermeintliche Einheit. Von beiden umworben, entscheidet er sich für Marie und plötzlich kippt die liebende Fürsorge Renates in Hass und subtil tobenden Zorn. Je tiefer der Graben zwischen den Frauen wird, umso gefährlicher verzerrt sich Renates Blick auf die Welt. Sie heftet sich dem Paar an die Fersen, verfolgt ihre Schwester, überwacht sie zuerst aus der Distanz, rückt dann aber unaufhaltsam näher bis zur letzten Konsequenz.In kunstvoller Sprache und mit ungeschminktem Blick nimmt Mischkulnig die Perspektive Renates ein, eine Perspektive, in der sich Wirklichkeit und Paranoia überlagern und erweist sich so erneut als eine grandiose Entertainerin des Unheils (Anton Thuswaldner).
Lydia Mischkulnig kam 1963 in Klagenfurt zur Welt. Sie studierte ab 1981 die Fächer Bühnenbild und Film an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz und Universität für Musik und darstellende Kunst Wien sowie ab 1985 an der Filmakademie Wien. Seit 1991 ist sie literarisch tätig und verfasst Romane, Erzählungen und Hörspiele. Mischkulnig erhiet zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), den Manuskripte-Preis(2002), das Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), den Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009) sowie das Joseph-Roth-Stipendium (2009). Die Autorin lebt und arbeitet in Kärnten und Wien. Bei Haymon erschienen: „Hollywood im Winter“. Roman (1996), „Macht euch keine Sorgen. Neun Heimsuchungen“ (2009).
Leseprobe:
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Die Firma, bei der ich arbeitete, produziert Trickfilme für einen Konzern. Das aktuellste Projekt handelte von Medikamenten, mit denen sich die Intelligenz steigern lässt. Das menschliche Gehirn ist eine Goldgrube. Digitale Effekte können seine Leistungen erklären und die Wirkungsweise der besonderen Medikamente bewerben. Die Vorarbeiten zum Trickfilm führten Regisseur, Assistenten und sogar mich in die Tiefen der menschlichen Psyche.
Die pharmazeutische Abteilung des Konzerns hatte dazu Fachzeitschriften geschickt. Ich schmökerte schon eine Weile darin, obwohl ich selbst nur für die Werbefilme banaler Nahrungsmittel zuständig war. Wie durch magische Kraft angezogen, blätterte ich immer schneller. Glückshormone tummeln sich im Synapsenspalt und treiben uns zur Höchstleistung an. Irgendetwas lockte mich. Mein Gehirn war durch das Wort „Glück“ stimuliert. Ich befeuchtete die Spitze des Zeigefingers, um die Blätter besser in den Griff zu bekommen. Dann ertappte ich die Seite, nach der ich suchte, die Substanz, diesen besonderen Botenstoff, der mich bis aufs Äußerste reizte, der gemischte Gefühle auf höchstpersönlicher Ebene erregte und mich süchtig machte. Keine leistungssteigernde Droge, keine wissenschaftliche Erkenntnis, sondern ein simples Interview. Ein Festredner und eine Festrednerin waren abgebildet, unter den Portraits standen die Namen.
Ich erkannte Marie sofort, obwohl ich sie seit Jahren nicht mehr aus der Nähe zu Gesicht bekommen hatte. Sie trug eine Brille. Ich las den Bericht über Serotonin mit angehaltenem Atem. Marie schien Vorträge auf Englisch und Französisch zu halten. Sie war Professorin und wurde als Koryphäe unter den forschenden Ärzten des Konzerns bezeichnet. Der Mann an ihrer Seite war der, den ich für mich erwählt habe, Paul.
Ich erhob mich von meinem Schreibtisch und ging in die Betriebsküche, trank Wasser, um das aufgebrachte Gemüt zu kühlen. Dann ging ich ins Büro meiner Chefin. Sie war nicht an ihrem Platz. Ich öffnete die Lade des Schreibtisches und zog die Lupe hervor, mit der sie das Kleingedruckte auf Rechnungen studiert. Ich legte die Lupe auf die Gesichter der Festredner und beugte mich, den Fokus auf die Münder richtend, hinunter. Im Bildtext wurden Marie und Paul als Paar bezeichnet, doch von Ehe war nicht die Rede. Sie glichen einander nicht durch die gemeinsam verlebte Zeit, sondern durch die Dünnlippigkeit. Marie hatte einst sinnliche Lippen gehabt und Paul auch, soweit ich mich erinnerte. Immerhin besaß er noch sein energisches Kinn. Ich entdeckte in den Zügen bitteren Ernst. Beide Sprecher waren durch engagierte Strenge gezeichnet. Die Lupe verrutschte und die Buchstaben verdeutlichten: Marie war nicht nur Ärztin, sie wurde dazu auch noch als modebewusste und attraktive Wissenschaftlerin vermarktet.
Gewiss, ich war eifersüchtig und aggressiv wegen Paul gewesen, aber dass sie so nachtragend sein würde, meine Marie, hätte ich nicht vermutet. Im Interview steht kein Hinweis auf mich. Wie konnte meine Schwester so gemein sein und mich aus ihrer Karriere löschen, indem sie meine Identität verschwieg. Man fragte sie im Interview, weshalb sie sich mit Neurophysiologie befasse. Und was für ein Gefasel über das Geheimnis der Seele des Menschen gab Marie hier zum Besten? Peinlich. Wir wussten es beide besser: Ich war der Anlass für ihre besondere Hingabe an dieses Fach. Sie verstieß in weiteren Sätzen nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meine Würde als Frau, denn alle Ermutigungen, die sie in ihrem Leben erfahren hätte, verdankte sie ausschließlich dem Zufall und Pauls Förderung, sagte sie. Ihre Familienverhältnisse beschrieb sie als eng und erstickend. Meine Sorge um sie handelte sie als „Unterdrückung gewisser Familienmitglieder“ ab. Das konnten unmöglich die Worte meiner Marie sein. Paul sprach aus ihrem Mund. Er stand ja zwischen uns, er hat uns entzweit.
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Literaturangabe:
MISCHKULNIG, LYDIA: Schwestern der Angst. Haymon Verlag, Innsbruck 2010. 248 S., 17,90 €.
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