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Gesichter des Krieges

Martin van Creveld untersucht den Wandel bewaffneter Konflikte

© Die Berliner Literaturkritik, 19.06.09

MÜNCHEN (BLK) — Im April 2009 ist im Münchener Siedler Verlag Martin van Crevelds Buch „Gesichter des Krieges. Der Wandel bewaffneter Konflikte von 1900 bis heute“ erschienen.

Klappentext: Kriege und Kriegführung haben seit der Schlacht an der Marne im Jahr 1914 ihr Gesicht dramatisch verändert. Der Militärexperte Martin van Creveld beschreibt den Wandel des Krieges von den Massenbewegungen und Stellungsschlachten der beiden Weltkriege über die Konflikte im Schatten des Kalten Kriegs bis zu den ungleichen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte zwischen regulären Armeen und irregulären Guerillatruppen. Anschaulich schildert er die wechselhaften Gesetze des Krieges, alte und neue Theorien der Kriegführung, folgenreiche technische Innovationen, das zunehmende Leiden der Zivilbevölkerung und die schwierigen Fragen nach Verantwortung und Kriegsschuld. Historische Betrachtung verknüpft van Creveld mit der eindringlichen Analyse gegenwärtiger Probleme und einem Ausblick auf mögliche Krisen: Was bedeutet es für die Zukunft bewaffneter Konflikte, wenn hochgerüstete Armeen wie etwa die der Amerikaner im Irak oder die israelische Armee in Gaza scheitern? Welche Art militärischer Auseinandersetzungen haben wir zu erwarten?

Martin van Creveld, geboren 1946 in Rotterdam, ist einer der renommiertesten Militärhistoriker unserer Zeit. Seit 1950 lebt er in Israel. Er studierte an der London School of Economics und an der Hebräischen Universität in Jerusalem, wo er seit 1971 als Professor für Geschichte lehrt. Darüber hinaus ist er als militärischer Berater und Referent in der gesamten westlichen Welt tätig. (köh/mül)

Leseprobe:

©Siedler©

Einleitung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befinden sich die am besten ausgerüsteten, am besten ausgebildeten, finanzkräftigsten und mächtigsten Streitkräfte aller Zeiten im Niedergang. Eine Fülle von Beispielen lässt sich für ihr Scheitern anführen. Fast vergessen scheint die Zeit, als Israelis gegen die Streitkräfte aller arabischen Länder gleichzeitig gekämpft und gesiegt haben. Nachdem sie siebzehn Jahre lang vergeblich versucht haben, den Aufstand der Palästinenser zu unterdrücken, geben die Israelis nun auf und ziehen sich aus dem Gaza-Streifen und Teilen des Westjordanlandes zurück — früher oder später folgt zweifellos auch der Abzug aus einem großen Teil der übrigen besetzten Gebiete. Andere Armeen befinden sich in einer ähnlichen Misere. Nach zehn Jahren Krieg in Tschetschenien, nach der Zerstörung Grosnys und nachdem Zehn-, wenn nicht sogar Hunderttausende ihrer Gegner getötet, verwundet oder heimatlos wurden, sind die Russen immer noch außerstande, ein Land mit zweieinhalb Millionen Einwohnern zu befrieden. In Thailand, in Indonesien und auf den Philippinen, ja, in einem Dutzend anderer Länder sind reguläre Truppen in sogenannte Operationen zur Bekämpfung von Aufständischen und Terroristen verwickelt. Gemessen an der reinen Militärmacht sind all die oben genannten Streitkräfte ihren Gegnern weit überlegen. Dennoch scheint keine einzige Armee nennenswerte Fortschritte zu erzielen, und höchstwahrscheinlich werden die meisten ihre Niederlage früher oder später eingestehen müssen.

Besonders beunruhigend ist der Fall der Amerikaner im Irak. Hier soll nicht diskutiert werden, ob die Entscheidung, Saddam Hussein anzugreifen, gerechtfertigt war oder nicht. Es sei hier nur gesagt, dass die Vereinigten Staaten als einzige Supermacht weltweit die schlagkräftigsten Truppen besitzen und ihnen eine Technologie zur Verfügung steht, mit der es kaum ein anderes Land aufnehmen kann. Der auserwählte Feind war ein kleines Entwicklungsland mit einem so viel niedrigeren Bruttoinlandsprodukt, dass sich jeder Vergleich erübrigt. Zwölf Jahre zuvor hatte der Irak bereits zwei Drittel seiner Streitkräfte verloren. Der Rest bestand, wie sich schon bald herausstellte, aus schlecht ausgebildeten, unwilligen Rekruten, die lediglich ein paar verrostete alte Fahrzeuge besaßen. Statt ihre Flugzeuge in die Lüfte zu schicken, vergruben sie sie im Sand; statt zu kämpfen, warfen sie die Waffen weg und gingen nach Hause. Doch kaum waren „die Kampfhandlungen im Irak weitgehend beendet“ — um Präsident Bushs Siegesrede zu zitieren —, da wurde deutlich, dass die US-Streitkräfte, die innerhalb von nur drei Wochen ein Land von 438 000 Quadratkilometern besetzt und dessen Hauptstadt eingenommen hatten, außerstande waren, mit ein paar Tausend Terroristen fertig zu werden. Anfang 2005, nachdem bereits zehnmal mehr Soldaten den Terroristen zum Opfer gefallen waren als den irakischen Truppen während des gesamten Feldzugs, kämpften die Amerikaner immer noch gegen sie an. Ihre Stellung war inzwischen so schwach, dass ihre irakischen Gegner sich nicht einmal mehr die Mühe machten, auf sie zu schießen. Stattdessen nahmen die Terroristen, die sich schon zu diesem Zeitpunkt auf den Tag nach dem unvermeidlichen Abzug der Amerikaner vorbereiteten, verstärkt die eigenen Landsleute ins Visier.

Will man die Gegenwart verstehen, so studiere man die Vergangenheit. Woher kam die Kriegführung des 20. Jahrhunderts? Wie entwickelte sie sich aus ihren Vorläufern im 19. Jahrhundert? Wie konnte es so weit kommen, dass Streitkräfte irgendwann imstande waren, ganze Kontinente zu überrennen? Wann erreichten diese großen Streitkräfte den Höhepunkt ihrer Macht, weshalb verloren sie an Einfluss und wie gerieten sie in die derzeitige Sackgasse? Gibt es einen Ausweg, oder sind reguläre, staatliche Armeen zukünftig zur Ohnmacht gegenüber kleinen, häufig schlecht organisierten Gruppen von Terroristen verdammt? Das vorliegende Buch, eine kurze Geschichte des Krieges im letzten Jahrhundert, ist der Versuch, Antworten auf diese Fragen zu finden. Die wohl größte Herausforderung besteht dabei in der Entscheidung, welche Aspekte aufgegriffen werden sollen — und welche nicht.

Es liegt auf der Hand, dass der Versuch, die Geschichte des Kriegs im 20. Jahrhundert ohne politischen, wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Hintergrund zu erzählen, ebenso unmöglich ist wie etwa die Beschreibung eines Chamäleons ohne Berücksichtigung der Umgebung, in der es lebt. Und ganz offensichtlich muss jedes Buch, das sich ein solches Ziel setzt, gigantische Ausmaße annehmen. Ich habe mich für einen Kompromiss entschieden, indem ich zwar ausreichend Hintergrundinformationen liefere, um die Kriege, Feldzüge und Schlachten verständlich zu machen, die militärischen Operationen selbst aber der zentrale Strang der Fragestellung bleiben.

KAPITEL 1

Vorspiel (1900 –1914)

Staaten, Armeen und Flotten

Um 1900 zweifelte niemand daran, dass eine „Großmacht“ ausschließlich von einer anderen „Großmacht“ wirklich in Gefahr gebracht werden konnte. Tatsächlich wird in der umfangreichen strategischen Literatur dieser Zeit eine andere Möglichkeit nicht einmal in Betracht gezogen. Bezieht man Italien mit ein, gab es insgesamt acht Großmächte.

Von diesen acht lebte in nicht weniger als sieben eine fast ausschließlich vom Christentum geprägte Bevölkerung. Darüber hinaus lagen fünf dieser acht Großmächte auf dem kleinen Kontinent namens Europa. Auch das Kernland Russlands befand sich auf europäischem Gebiet, auch wenn sich das Zarenreich über ganz Asien bis zum Pazifik erstreckte. Nur zwei Mächte, die Vereinigten Staaten und Japan, waren geografisch vom „alten“ Kontinent getrennt. Doch selbst diese beiden verdankten ihre Stärke der europäischen Herkunft ihrer Bevölkerung und/oder der erfolgreichen Übernahme europäischer Ideen, Methoden und Techniken.

Diese geballte Konzentration militärischer Macht — das Ergebnis einer Reihe außerordentlich glücklicher Umstände, die sich im Laufe der Jahrhunderte ergeben hatten — ermöglichte es diesen Staaten, fast die gesamte Welt unter sich aufzuteilen. Seit dem Jahr 1500 hatten europäische Länder Kolonien in Übersee gegründet. Europäische Schiffe fuhren unter vollen Segeln und mit Kanonen ausgerüstet über die Meere. Unter der Führung der Abenteurer Christoph Kolumbus, Vasco da Gama und ihrer Nachfolger erreichten sie jeden Winkel der Erde. Wo auch immer die Eroberer auf Widerstand trafen, schossen sie ihn nieder. Indessen war es für Nichteuropäer, wenn überhaupt, nur mit einer Einfuhrerlaubnis als exotisches Schaustück möglich, nach Europa zu gelangen.

Abgesehen von Lateinamerika waren China, Thailand, Äthiopien, Liberia, das Osmanische Reich, Iran und Afghanistan die einzigen nichteuropäischen Länder, denen es gelang, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Das lag weniger an ihrer eigenen Stärke, sondern in erster Linie daran, dass die europäischen Mächte, uneinig über die Aufteilung dieser Länder, ihretwegen keinen Krieg anzetteln wollten. Einige wurden offiziell zu Pufferzonen deklariert. Der Iran etwa wurde 1907 in drei „Einflusszonen“ aufgeteilt: eine russische im Norden, eine britische im Süden und eine gemeinsam verwaltete in der Mitte. In anderen Fällen war die besagte Unabhängigkeit mehr Schein als Sein. Wie so häufig stützte sich politischer Einfluss auf eine beeindruckende Akkumulation wirtschaftlicher Macht. Die Industrielle Revolution hatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien begonnen und breitete sich von dort über den Kontinent aus. Die übrige Welt jedoch, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten und Japan, war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch kaum mit ihr in Berührung gekommen. Bis 1750 wurden, nach zuverlässigen Berechnungen, etwa drei Viertel der gesamten globalen Produktionsleistung in Regionen erbracht, die heutzutage häufig als „Dritte Welt“ bezeichnet werden (Afrika und Asien — ohne Russland und Japan). Von diesem Zeitpunkt an jedoch sank ihr Anteil stetig, bis er im Jahr 1900 nur noch 12 Prozent betrug. Umgekehrt waren zu dieser Zeit Europa, die Vereinigten Staaten und Japan zusammen bereits für 88 Prozent der gesamten Weltindustrieproduktion verantwortlich. Legt man die Industrialisierungsrate auf die Bevölkerungszahl um, so wird die Kluft zwischen den selbsternannten „zivilisierten“ und den „unterentwickelten“ Ländern noch deutlicher.

Im Jahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, waren die Vereinigten Staaten mit 98 Millionen Einwohnern und einem Volkseinkommen in Höhe von 37 Milliarden Dollar bereits die größte Wirtschaftsmacht. Ihnen folgten Deutschland (65 Millionen Einwohner und 12 Milliarden Dollar Volkseinkommen), Großbritannien (45 Millionen und 11 Milliarden Dollar), Russland (171 Millionen und 7 Milliarden Dollar) und Frankreich (39 Millionen und 6 Milliarden Dollar), Österreich-Ungarn (52 Millionen und 3 Milliarden Dollar), Italien (37 Millionen und 4 Milliarden Dollar) und Japan (55 Millionen und 2 Milliarden Dollar). Somit war die amerikanische Volkswirtschaft fast größer als die der vier folgenden Mächte zusammengenommen und belief sich auf 45 Prozent der Gesamtweltwirtschaft. Mit 377 Dollar stand auch das amerikanische Pro-Kopf-Einkommen mit Abstand an der Spitze. Dies hatte zur Folge, dass sich Besucher, die in ihrem eigenen Land ein komfortables Leben führten, in den Staaten regelrecht arm vorkamen. Hinter den USA folgten, mit beträchtlichem Abstand, Großbritannien (244 Dollar), Deutschland (184 Dollar) und Frankreich (153 Dollar). Gemessen daran waren Italien, Österreich-Ungarn,Russland und Japan die finanzschwächsten Mächte.

Zu diesem Zeitpunkt deckten fünf der sieben stärksten Armeen der Welt (die deutsche, französische, italienische, österreich-ungarische und russische) ihren Bedarf an Rekruten über eine Art allgemeine Wehrpflicht. Dies galt auch für Japan, doch in der Praxis hatten die ständigen Finanznöte des Landes zur Folge, dass der Anteil der tatsächlich Eingezogenen aus den betreffenden Altersgruppen erheblich niedriger lag. Die bedeutendsten Ausnahmen waren Großbritannien, dessen wichtigste Verteidigung seine Flotte bildete, und die Vereinigten Staaten, die sich „hinter den Ozeanen“ relativ sicher fühlten und so gut wie keine Streitkräfte besaßen.

Die allgemeine Wehrpflicht, die anhand von Bürgerlisten von den Magistraten organisiert wurde, war in der Antike sowohl in Griechenland als auch in der Römischen Republik die übliche Methode der Mobilisierung gewesen. Im Römischen Kaiserreich jedoch wurde sie aufgegeben, und es sollten mehr als anderthalb Jahrtausende vergehen, ehe sie wieder eingeführt wurde. Unterstützt von Fortschritten in der Staatsverwaltung führte Frankreich im Jahr 1792 als erstes modernes Land die Wehrpflicht, oder levée en masse, wie sie genannt wurde, ein. Andere Länder folgten zögernd diesem Beispiel. Die Einführungen waren von etlichen Höhen und Tiefen begleitet, die häufig politische Auseinandersetzungen unter Reaktionären, Demokraten und Sozialisten widerspiegelten und noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein anhielten. Nach dem deutschen Sieg über Frankreich 1870/71 übernahmen die meisten Länder das System der militärischen Organisation, das Deutschland entwickelt hatte. Dieses System gliederte die Streitkräfte in drei Teile. Der erste bestand aus einem Kern von Berufssoldaten (Offizieren und Unteroffizieren), die auf der Basis von längerfristigen Verträgen dienten — in vielen Fällen bis zu ihrer Pensionierung. Der zweite umfasste eine größere Gruppe aus Wehrpflichtigen, die in der Regel, je nach Land und zu erfüllendem Dienst, für eine zwei- oder dreijährige Dienstzeit eingezogen wurden. Diese beiden Komponenten machten in Friedenszeiten zusammen vielleicht 1 Prozent der Landesbevölkerung aus, in Frankreich lag der Anteil deutlich höher, in Italien und Japan hingegen niedriger. Der dritte und größte Bestandteil umfasste die Reservisten. Sie hatten ihre Ausbildung absolviert und standen nach ihrer Entlassung in das zivile Leben im Fall eines Krieges weiterhin für eine sofortige Einberufung zur Verfügung — von Zeit zu Zeit mögen sie eine Art Auffrischung erhalten haben.

Bis 1914 gingen die meisten Länder davon aus, dass die Reservetruppen ihre Streitkräfte um das Vier- oder Fünffache vergrößerten, doch das war keineswegs die Obergrenze. Die bestorganisierten Länder mit den kürzesten Kommunikationswegen waren Deutschland und Frankreich. Sie steckten letztendlich fast 10 Prozent ihrer Bevölkerung in Uniform und ließen sie jahrelang Dienst verrichten. Was dies für die Männer und ihre Familien bedeutete, kann man sich kaum vorstellen. Jede Großmacht und auch die meisten kleineren Nationen besaßen zwar sowohl ein Heer als auch eine Flotte, die meisten Land- und Seestreitkräfte hatten sich jedoch über Jahrhunderte hinweg unabhängig voneinander entwickelt. Deshalb kamen nur wenige Staatsoberhäupter auf den Gedanken, beide Streitkräfte auf einem bestimmten Niveau gemeinsam auszubilden, geschweige denn, sie unter ein gemeinsames Oberkommando zu stellen. Stattdessen war jeder Teilstreitkraft ein eigenes Ministerium zugeordnet, das für die Versorgung mit Waffen, Munition und Treibstoff sowie für die administrative Unterstützung — von der Finanzierung bis hin zu den Pensionen der Veteranen — zuständig war.

Jedes Ministerium wurde von einem Minister geleitet, der dieses entweder im Kabinett oder, wie in Großbritannien und Frankreich, in einem kleineren Komitee, bestehend aus den entscheidungsbefugten Ministern, repräsentierte. In Deutschland war, in seiner Funktion als Oberbefehlshaber, der Kaiser persönlich das einzige Bindeglied zwischen der Obersten Heeresleitung (OHL) und der Seekriegsleitung (SKL). Deshalb wurde die Seekriegsleitung nicht offiziell über die Pläne des Heeres informiert. Laut den Angaben eines späteren Befehlshabers, Admiral Erich Raeder, hatte sie auch keine Pläne zur Unterstützung der Invasion in Belgien und Frankreich ausgearbeitet.

In den Vereinigten Staaten verhielt es sich ähnlich. Auch hier waren der Marineminister und der Kriegsminister (Heer) voneinander isoliert und beide wiederum nur dem Präsidenten unterstellt. Unter ihnen schienen der Generalstabschef des Heeres und der Chef der Marineoperationen in verschiedenen Welten zu leben — ein Problem, das in Bezug auf Verfahrensregeln, Funkkommunikation und Datenaustausch bis heute nicht völlig gelöst wurde. Für Frankreich und Großbritannien galten die gleichen organisatorischen Beschränkungen, nur übernahm in diesen Ländern der jeweilige Regierungschef die Funktion des Bindeglieds. Der Hauptunterschied zwischen den Militärmonarchien östlich des Rheins und den Demokratien westlich davon bestand im Grunde darin, dass in Ersteren die Stabschefs befugt waren, sich direkt an einen Souverän zu wenden. Der „Immediatvortrag“, wie die Deutschen diese Möglichkeit nannten, war dennoch alles andere als ideal für die Anforderungen eines modernen Krieges. Dennoch bemühten sich die meisten Länder erst nach 1945 um eine Reform und gründeten Verteidigungsministerien mit einem gemeinsamen Oberkommando für alle Streitkräfte. Zu diesem Zeitpunkt aber war dies, wie wir noch sehen werden, in vielerlei Hinsicht gar nicht mehr von Bedeutung.

Wie Schwedens König Gustav Adolf es Anfang des 17 Jahrhunderts vorexerziert hatte, bestanden die Heere im Wesentlichen immer noch aus den drei Waffengattungen Infanterie, Kavallerie und Artillerie. Doch seit 1870, mit der zunehmenden Verbreitung der mit Magazinen ausgestatteten Handfeuerwaffen, der Maschinengewehre und der Schnellfeuergeschütze, musste jedem, der etwas von der Sache verstand, klar gewesen sein, dass die Tage der Kavallerie gezählt waren. och wichtiger war im Rückblick womöglich aber die folgende Entwicklung: Der rasante technische Fortschritt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu einer sehr viel stärkeren Unterteilung der Heere. Es entstand eine ganze Reihe von Spezialeinheiten, die für den Gebrauch der neuen Kriegsmittel verantwortlich waren.

Viele von ihnen waren Ableger der Artillerie, bekanntlich immer schon eine Zuflucht für die weniger Anti-Intellektuellen unter den Offizieren. Dazu zählten Pioniertruppen, technische Truppen, Eisenbahntruppen, Funkereinheiten und dergleichen — und schon bald sollten die verschiedenen Fliegerstaffeln des Heeres hinzukommen. Die Zeit, in der 90 Prozent der Soldaten Waffen trugen und für den Kampfeinsatz bestimmt waren, neigte sich dem Ende zu. Bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte Russland erste Versuche unternommen, seine Truppen per Eisenbahn zu befördern. Im Jahr 1859 wandten sowohl die Franzosen als auch die Preußen diese neue Transporttechnik an; Erstere, um in Italien gegen die Österreicher Krieg zu führen, und Letztere, um ihr Heer den Rhein entlang in Position zu bringen. Diese ersten Versuche wurden durch den amerikanischen Sezessionskrieg in den Schatten gestellt, in dessen Verlauf beide Seiten — vor allem aber die Unionisten — Truppen und Vorräte in gigantischem Ausmaß per Eisenbahn kreuz und quer über den Kontinent schickten. Die meisten Europäer, die das Ganze verfolgten, blieben davon jedoch unbeeindruckt — sie waren von ihrer Überlegenheit überzeugt. Nicht alle hatten den Weitblick eines Karl Marx, der, obwohl kein Militärexperte, den amerikanischen Bürgerkrieg als „ein Schauspiel ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“ erkannte.

Allerdings muss man einräumen, dass das europäische Desinteresse ein Stück weit berechtigt war. Schon in den Kriegen von 1866 und 1870/71 hatten die Preußen eindrucksvoll demonstriert, zu welchen Leistungen die Eisenbahn imstande war. Seit dieser Zeit kamen bis 1914 fast ausnahmslos amerikanische Offiziere über den großen Teich, um die deutsche Technik zu studieren — nicht umgekehrt.

Im Jahr 1914 war das Zeitalter des Eisenbahnbaus so gut wie vorüber. Über 320 000 Kilometer Schienenlänge quer durch Europa veranlassten alle Mächte, Pläne auszuarbeiten, um die Gleisstrecken optimal für Mobilmachung und Aufstellung zu nutzen. Der deutsche Generalstab plante zum Beispiel den Einsatz von nicht weniger als 11 000 Zügen über einen Zeitraum von zwei Wochen. Die Bewegung der mit einer stattlichen Geschwindigkeit von 40 Stundenkilometern fahrenden Züge wurde so exakt berechnet, dass man sogar die Zahl der Achsen kannte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Brücke passieren würde. Damals wie heute war die Eisenbahn in Bezug auf Aufnahmekapazität und Effizienz konkurrenzlos, da sie pro Tonnenkilometer weit weniger Personal und Instandhaltungskosten veranschlagte als andere Verkehrsmittel. Damals wie heute aber sind Gleisstrecken unflexibel und in Kriegszeiten anfällig für feindliche Angriffe. Darüber hinaus konnten Eisenbahnlinien nicht allzu nahe an die Front gelegt werden, und viele Operationen wurden daher weiterhin mithilfe von Menschen und Tieren ausgeführt.

Dafür aber war der Erste Weltkrieg die erste kriegerische Auseinandersetzung, bei der das Automobil eine Rolle spielte. Im Jahr 1914 verfügte die mobilisierte deutsche Armee über rund 5.000 Automobile, überwiegend beschlagnahmte zivile Fahrzeuge, die für die harten Anforderungen eines Krieges völlig ungeeignet waren. Die Zahl der Pferde, die für die Beförderung der Kavalleristen und als Zugpferde für die Artillerie und die Vorratswagen eingesetzt wurden, wird hingegen auf 1,4Millionen geschätzt. Die neumodische Erfindung namens Automobil erwies sich jedoch bei einem berühmten Ereignis im September desselben Jahres als außerordentlich nützlich. General Joseph Gallieni, der Militärgouverneur von Paris, ließ 600 städtische Taxis beschlagnahmen, um Soldaten an die Front zu verlegen, und leistete damit angeblich einen großen Beitrag zum Sieg der Franzosen in der Marne-Schlacht. Im Laufe des Ersten Weltkrieges wurden Automobile verstärkt für die Kommunikation, die Evakuierung von Verwundeten, Nachschublieferungen und dergleichen mehr eingesetzt. Andere Fahrzeuge wie Traktoren fungierten überdies als Zugmaschinen für Geschütze, die so schwer waren, dass kein anderes Fahrzeug sie hätte bewegen können. Im Jahr 1918 verfügte allein die britische Armee über rund 70 000 motorisierte Fahrzeuge, einschließlich Mannschaftswagen und Zugmaschinen.

Dennoch sollte die Erfahrung zeigen, dass eine voll motorisierte Armee ein Fahrzeug für jeweils sechs Mann benötigte — eine Quote, die dem vorherigen Verhältnis von Pferden zu Männern verblüffend nahe kam. Damals erreichten nicht einmal die Amerikaner, die viel besser ausgerüstet waren als alle anderen Nationen, diese Quote auch nur annähernd. Aus diesem Grund, aber auch, weil das Gelände auf den Schlachtfeldern für einen motorisierten Transport häufig zu unwegsam war, hingen alle großen Operationen, wie in den Jahrhunderten zuvor, immer noch von der Muskelkraft der Männer und Pferde ab.

Wenn der Krieg wirklich der Vater aller Dinge ist, dann waren Befehlskette, Aufsicht und Kommunikation lange Zeit seine ungeliebten Stiefkinder. Mithilfe von Musketen und Kanonen hätte Napoleons Grande Armée ohne weiteres Caesars Legionen zerstören können. Napoleon war jedoch, wie er selbst schrieb, gegenüber Julius Caesar nicht nennenswert im Vorteil, was die Kommunikation mit seinen Generälen betraf. Wie schon im Jahr 44 v. Chr. wurden Befehle auch um das Jahr 1800 von Männern weitergegeben, entweder zu Fuß oder zu Pferde. Auf kurzen Strecken konnten Botschaften akustisch durch Trommeln beziehungsweise Trompeten oder visuell mit Flaggen und Standarten übermittelt werden. Für längere Strecken stand Napoleon eine einzigartige Methode zur Verfügung: das Semaphorensystem. Ein Semaphore bestand aus einem Mast mit mehreren beweglichen Flügeln, der auf hohen Türmen aufgestellt war. Durch die Stellung der Flügel wurden bestimmte Buchstaben angezeigt, die mithilfe eines Fernrohrs aus großer Entfernung gelesen werden konnten. Anfangs gab es nur eine Linie mit Türmen, später wurde das System so weit ausgedehnt, dass es die wichtigsten Hauptstädte umfasste. Der Betrieb dieses Systems war jedoch enorm kostspielig, da für die Übermittlung zahlreiche Personen notwendig waren — Bedienungsmänner und Beobachter. Überdies war es auf einen bestimmten Verlauf festgelegt und konnte nicht den Bewegungen der Feldheere folgen.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese jahrhundertealten Methoden durch Ableger des neuen Wunders der Wissenschaft, der Elektrizität, ersetzt. In Form des Telegrafen, Telefons und Rundfunks machte die Technik rasante Fortschritte — allerdings waren im Jahr 1914 alle drei Innovationen noch sperrig und störanfällig und außerdem natürlich auf Strom angewiesen, der nicht überall zur Verfügung stand. Daher entdeckte man die neuen Hightechwunder umso seltener, je näher man der Front kam. Dort wurden häufig immer noch die älteren, aber zuverlässigeren Kommunikationsmethoden eingesetzt, zum Beispiel Boten, Blinklichter (einschließlich Leuchtraketen), Hörner, Brieftauben (von der US-Army erst in den dreißiger Jahren ausgemustert) und sogar Meldehunde.

Die technologische Entwicklung veränderte zwar mehr oder weniger auch die Schlachtfelder, doch die dramatischeren Umwälzungen ereigneten sich auf See. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die weltweit größten Flotten damit beschäftigt, sich größere und stärkere Schlachtschiffe anzuschaffen. Da diese aber auch teurer waren, konnten sie folglich nur in geringer Stückzahl erworben werden. In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts verdrängten die ersten gepanzerten und schließlich aus Eisen gebauten Schiffe allmählich die alten hölzernen Segelschiffe; im Jahr 1873 verzichtete die HMS Devastation als erstes Schlachtschiff ganz auf Segel und nutzte fortan als Antriebskraft ausschließlich Kohle. Im Jahr 1914 war der Übergang von der Windkraft zum Dampfantrieb so gut wie abgeschlossen. Nun, unabhängig von den Launen des Wetters, waren die Schiffe schneller, größer und schwerer bewaffnet und gepanzert als je zuvor. Da Kohle jedoch, im Gegensatz zum Wind, ein begrenzter Rohstoff ist, begann für den Westen mit der Notwendigkeit, auf der ganzen Welt Vorratslager anzulegen, ein neues Kapitel im Wettlauf um Kolonien in Übersee. Aber auch Kohle wurde durch Öl ersetzt — und die Kolbendampfmaschinen durch die leistungsstärkeren Turbinen. Im Jahr 1906 lief die britische Dreadnought, das erste Schlachtschiff mit einheitlichen Großkalibergeschützen, vom Stapel.Damit waren sämtliche Vorläufer auf einen Schlag überholt, und die anderen Mächte mussten notgedrungen nachziehen.

Noch um 1880 war die Reichweite der Schiffskanonen auf knapp 3.000Meter begrenzt. Die Besatzung richtete die Geschütze aus, so gut sie konnte. Sie achtete auf die Schlingerbewegung des Schiffes und feuerten im, wie sie hoffte, günstigsten Augenblick; anschließend korrigierte sie je nach Einschlag der Kugel im Wasser. Um das Jahr 1914 waren Kanonen bereits in der Lage, Geschosse bis zu 30 Kilometer weit zu feuern. Diese Entfernung machte es der Geschützbedienung unmöglich, den Einschlag der Kugel zu verfolgen — es musste also folglich dringend ein neues System für die Ausrichtung der Schiffskanonen erfunden werden. Zwischen 1900 und 1910 nahmen britische und amerikanische Offiziere tatsächlich ein System in Betrieb, das Richtungs- und Entfernungssucher nutzte, die erst kurz zuvor entwickelt worden waren. Der Erste Artillerieoffizier, der inzwischen nach dem Kapitän und dem Ersten Offizier die Nummer drei an Bord war, las die Daten von den Instrumenten ab. Erhöht auf der Brücke sitzend — höher noch als der Kapitän, der sich mit der darunterliegenden Ebene zufriedengeben musste —, stellten er und sein Stab mithilfe mechanischer Geräte die erforderlichen Berechnungen an, wobei sie Faktoren wie die relative Geschwindigkeit, die Richtung und Schlingerbewegung des Schiffes berücksichtigen mussten. Im richtigen Augenblick drückte der Erste Artillerieoffizier auf den Feuerknopf, der über ein elektrisches Signal eine Salve auslöste.

Zu einer Zeit, als militärische Funkstationen auf dem Land zum Teil noch dadurch mit Strom versorgt wurden, dass Soldaten eifrig in die Pedale fest stehender Fahrräder traten, war elektrischer Strom auf See viel leichter verfügbar. Dort gab es unzählige Maschinen, mit deren Hilfe man einen Dynamo antreiben konnte. Bereits im Jahr 1905 warnten japanische Kundschafter ihren Befehlshaber Admiral Heihachiro Togo per Funk, dass die russische Flotte sich der Straße von Tsuschima nähere, und im Jahr 1910 wurde jedes britische Schiff, ob militärisch oder zivil, angewiesen, ein Funkgerät einzubauen. Zum ersten Mal in der Geschichte war das zentrale Hauptquartier imstande, Operationen fortlaufend zu überwachen und zu steuern. Es musste den Admiralen nicht mehr länger Befehle zukommen lassen, ohne die Gewissheit zu haben, dass diese den Gegebenheiten vor Ort überhaupt angemessen waren. Zum ersten Mal in der Geschichte konnten Nachrichten gleichzeitig und ohne zusätzliche Kosten in mehrere Richtungen verschickt werden, ohne das Risiko einzugehen, dass das Boot, das die Befehle überbrachte, in feindliche Hände fiel — zumindest sofern die Botschaften verschlüsselt waren. Weit voneinander entfernte Fahrzeuge und Flotten konnten eine kohärente Strategie umsetzen, ihre Bewegungen koordinieren und sich je nach Bedarf auch gegenseitig zu Hilfe kommen. Faktoren wie Nebel und Dunkelheit, die Stellung der Sonne oder gar der Rauch aus den eigenen Schornsteinen des Schiffs, die ältere, optische Meldesysteme beeinträchtigt hatten, waren so gut wie ausgeschaltet.

Die Kehrseite der Medaille war — auf See wie auch an Land —, dass über Funk übermittelte Nachrichten abgefangen und nicht selten auch entschlüsselt werden konnten. Selbst wenn die Botschaft nicht entschlüsselt werden konnte — allein die Tatsache, dass sie gesendet worden war, die Häufigkeit ihrer Übermittlung und die Möglichkeit, den Sender über das Verfahren der Triangulation anzupeilen, lieferten bereits wichtige Hinweise auf die Standorte der feindlichen Flotte, ihre Stärke und Kampfziele. Dieses Risiko war schon dem japanischen Admiral Togo im Jahr 1905 bewusst; sobald er die entscheidende Warnung von der sich nähernden russischen Flotte erhalten hatte, befahl er seinen Kapitänen, während der Vorbereitung auf die Schlacht Funkstille zu wahren. Umgekehrt bekamen die Briten 1916 durch abgefangene Funksprüche erste Hinweise, dass die deutsche Hochseeflotte ausgelaufen war, woraus sich die Skagerrakschlacht entwickelte. Allerdings verhinderte ein administratives Chaos im Marineamt, dass sie die Informationen optimal ausnutzen konnten.

Und schließlich hatte noch eine weitere neue Technologie das Potenzial, die Seekriegführung zu revolutionieren: das Unterseeboot. Die Geschichte der U-Boote reicht bis ins ausgehende 17. Jahrhundert zurück, einige kamen bereits im amerikanischen Sezessionskrieg zum Einsatz. Diese frühen Modelle waren jedoch für ihre Besatzung ebenso gefährlich wie für den Gegner. Erst im Jahr 1900 lief das erste moderne Unterseeboot vom Stapel, das einen Verbrennungsmotor mit einem Elektromotor für Unterwasserfahrten kombinierte. Das Basismodell, eine amerikanische Erfindung, wurde rasch nachgebaut, aber die Entwicklung schritt nur langsam voran. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren U-Boote noch in keiner Schlacht erprobt worden, ihr eigentliches Potenzial war unbekannt. Sogar Julian Corbett, der scharfsinnigste Seekriegsstratege seiner Zeit, meinte, U-Boote würden sich in erster Linie für die Küstenverteidigung eignen. Bei den unzähligen technischen Neuerungen auf See hatten nur wenige eine klare Vorstellung davon, wie sich diese gegenseitig beeinflussten und bestmöglich einsetzen ließen, beziehungsweise, welche Wirkung sie überhaupt erzielen würden.

Kriegsvisionen

Im Jahr 1914 besaß das uniformierte Militär fast einen Monopolanspruch auf das gesamte Kriegswesen. Die damaligen Medien hatten gewiss lebhaftes Interesse an der Militärwissenschaft, doch die Idee ziviler Think Tanks und Institute an Universitäten, die zu dem Thema Lehrveranstaltungen anboten, lag noch in weiter Ferne. Damals hielt es auch noch kein Land für erforderlich, einen nationalen Sicherheitsrat mit einer starken Repräsentanz ziviler Experten zu schaffen. Tatsächlich bezeichnete der deutsche Generalstab das Außenministerium, das solche Experten eventuell hätte bereitstellen können, als „Idiotenhaus“. Es gab zwar einige wenige Ausnahmen, vor allem in den Vereinigten Staaten und Frankreich, wo die Regierungen sich nicht ausschließlich auf die Herren Offiziere verließen, doch in den meisten Ländern waren die Minister, die für die jeweiligen Teilstreitkräfte zuständig waren, selbst ehemalige Generäle oder Admiräle. In jedem Land waren die Generalstabsoffiziere die wahren Experten der Militärwissenschaft, ihr Status war unübersehbar durch rote Streifen an der Uniformhose gekennzeichnet, und der einzige Ort, wo Militärwissenschaft gelehrt wurde, waren Stabs- oder Militärakademien.

Derartige Institutionen hatten ihren Ursprung im ausgehenden 18. Jahrhundert und waren bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein relativ unbedeutend gewesen. Mit den Kriegen Deutschlands gegen Österreich-Ungarn und Frankreich (1866 bis 1871) änderte sich dies jedoch. Während die Generalstäbe als alleiniger Quell militärischer Weisheit galten, waren die Militärakademien der Ort, wo die Angehörigen der Eliten auf Herz und Nieren geprüft wurden. Welche Bedeutung ihrer Rolle beigemessen wurde, lässt sich schon daran ablesen, dass spätere französische Kommandeure wie Ferdinand Foch und Philippe Pétain und ihre deutschen Gegenspieler Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff dort eine Zeitlang unterrichteten.

Der Nachteil dieses Systems bestand in der fast vollständigen Trennung der militärischen von der zivilen Welt. Es war eine Trennung, die sich auch in der Militärgeschichtsschreibung niederschlug, die dazu tendierte, sich extrem auf die eigene Zunft zu beschränken. Admiral John Fisher etwa, der Erste Vorsitzende Lord der Admiralität und de facto Stabschef der britischen Flotte, holte einmal Julian Corbett als Dozent an die neu gegründete Akademie Greenwich Staff College.Corbett war damals nach Alfred Mahan der bekannteste Seekriegsstratege der Welt, und wenn auch nur wenige Menschen (unter ihnen Winston Churchill) seine Schriften wirklich gelesen hatten, so waren sich die meisten doch darin einig, dass sie brillant waren. Zu den Kernpunkten, die Corbett vermitteln wollte, zählte die These, dass es, um etwas von Seestrategie zu verstehen, nicht genüge, über Schiffe, Motoren, Kanonen, Gezeiten, Wetterbedingungen und dergleichen Bescheid zu wissen. Vielmehr müsse man „das ganze Feld diplomatischer und militärischer Bemühungen“ hinzuziehen. Heutzutage würden wir das eine „Grand Strategy“ nennen. Er hatte keinen Erfolg, und die Studenten, durchweg erprobte Seeleute, machten sich auf gutmütige Art und Weise lustig über seine Versuche, das Vorgehen der früheren Flottenbefehlshaber zu erklären und diese zu kritisieren. Letzten Endes war er eben doch nur ein Anwalt, auch wenn er sich, da er finanziell unabhängig war, voll und ganz der Flottenpolitik widmete. Und was konnte ihnen ein Anwalt schon beibringen, was sie nicht ohnehin bereits wussten?

Im Vergleich zu dieser Feindseligkeit an den Militärakademien waren die Kriegsministerien gelegentlich empfänglicher für Neues. Spenser Wilkinson veröffentlichte im Jahr 1895 seine Abhandlung über die vom deutschen Generalstab favorisierten Ideen — genau zu der Zeit, als der Herzog von Cambridge, der als Oberbefehlshaber jahrzehntelang alle Reformversuche abgeblockt hatte, endlich aus dem Amt schied. Dennoch wurden die meisten Zivilisten — selbst der bekannteste damalige Militärhistoriker, der Deutsche Hans Delbrück — verächtlich zurückgewiesen. Tatsächlich war schon allein Delbrücks Versuch, die Geschichte der Kriegskunst „im Rahmen der politischen Geschichte“, so der Untertitel seines Hauptwerks, darzustellen, verdächtig genug. Hatte das Militär denn nicht immer schon darauf bestanden, dass sein Stand losgelöst von rein politischen Entwicklungen und somit zugleich bedeutender sei? Einige wenige Fachleute wie zum Beispiel Ärzte oder Geistliche erhielten das Offizierspatent, direkt nachdem sie zivile Universitäten oder Schulen besucht hatten. Abgesehen davon aber war es schlichtweg unvorstellbar, dass Offiziere im Dienst etwas lernen könnten, indem sie eine Universität besuchten.

Um die Jahrhundertwende brach eine ganze Reihe von Konflikten aus, aus denen jeder, der wollte, seine Lehren ziehen konnte. Im Übrigen hatte die Militärgeschichte nie einen besseren Ruf und wurde zu dieser Zeit, gerade was die Interpretation der Konflikte betraf, eifrig zu Rate gezogen. Da die Kombattanten zumindest einer der beteiligten Seiten damals kaum als Menschen angesehen wurden, schien man aus dem chinesisch-japanischen Krieg von 1895 noch keine Lehren ziehen zu können, anders jedoch verhielt es sich mit dem Burenkrieg von 1899 bis 1900; dieser Krieg wurde von weißen, angelsächsischen Protestanten geführt — einem nach damaligen Maßstäben besonders bedeutsamen Menschenschlag — und noch dazu mit den neuesten europäischen Waffen. Der Krieg führte die Bedeutung schnell feuernder Artillerie eindrucksvoll vor Augen, weil es den Buren gelungen war, mit nur wenigen Krupp-Kanonen die viel schwereren, aber sperrigen und langsamen britischen Geschütze in Schach zu halten. Er demonstrierte ferner, wie wichtig das Gewehrfeuer war — eine Lektion, die die Briten sich sehr zu Herzen nahmen. Künftig bildeten sie ihre Rekruten dazu aus, „zwölf gezielte Schüsse in der Minute“ abzugeben, wie der Wahlspruch lautete. Natürlich hätte die Erfahrung aus dem Burenkrieg zu der Erkenntnis führen müssen, dass die Tage der Kavallerie vorüber waren und dass Reiter künftig besser vom Boden aus kämpfen sollten — genau wie die Buren es getan hatten, obwohl sie ausgezeichnete Reiter gewesen waren. Diese Schlussfolgerung jedoch wäre eine zu bittere Pille gewesen.

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Literaturangaben: VAN CREVELD, MARTIN: Gesichter des Krieges. Der Wandel bewaffneter Konflikte von 1900 bis heute. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Siedler Verlag, München 2009. 352 S., 22,95 €.

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