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Gespenstisches in Berlin

Sarah Khans Erzählungsband „Die Gespenster von Berlin“

© Die Berliner Literaturkritik, 22.04.10

FRANKFURT/MAIN (BLK) – Sarah Khans neuester Erzählungsband „Die Gespenster von Berlin“ ist im Oktober 2009 in der Suhrkamp Taschenbuchreihe „Suhrkamp Nova“ erschienen.

Klappentext: Ein Gespenst geht um in Friedrichshain und setzt teure Autos in Brand. Ein politisch motivierter Sühneakt? Sarah Khan geht der Sache nach und macht in alten Archiven der Stadt eine fürchterliche Entdeckung: Im Tunnel des Stettiner Bahnhofs, heute Nordbahnhof, wurden 1945 verwundete Wehrmachtssoldaten ermordet. Im Mietshaus in Prenzlauer Berg will niemand lange wohnen bleiben, auch Sarah Khans Freundin Heike nicht. Durchs Treppenhaus spukt eine im Zweiten Weltkrieg verhungerte Klavierlehrerin. Wer war diese Frau? Sarah Khan sucht in alten Berliner Adressbüchern, auf Deportationslisten und findet ihren Namen schließlich im Totenbuch der Elias-Gemeinde aus dem Jahr 1945. Haarsträubende Ereignisse, unerklärliche Vorkommnisse, jenseitige Erfahrungen. Die Gespenster haben eine Botschaft, sagt Sarah Khan, sie macht sich zur Vermittlerin. Mit Geschichten, die uns Schauer über den Rücken jagen.

Sarah Khan wurde 1971 in Hamburg geboren. Sie lebt und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Khan studierte Volkskunde und Germanistik und widmet sich seitdem der Schriftstellerei. Es sind bereits drei Romane erschienen, ihren letzten Roman, „Eine romantische Maßnahme“, publizierte sie im Jahr 2004. (len)

Leseprobe:

©Suhrkamp Verlag©

Eine übersinnlich veranlagte Frau bemerkt ihre Fähigkeiten schon früh in der Jugend und spielt damit herum. Eines Tages ist es dann so weit, sie bekommt eine höllische Angst und beschließt, den Unfug für immer sein zu lassen. Und doch ruft sie die Geister immer wieder, denn sie kann es nicht lassen. Anne wurde 1966 in Magdeburg geboren. Als Anne zweiundzwanzig Jahre alt war und von allem tödlich gelangweilt, beschloss sie aus dem Land zu fliehen. Sie wusste ja nicht, dass die Tage der DDR gezählt waren, denn sie hatte die Geister fast nie nach ihrer eigenen Zukunft befragt. das war zu heikel. Sie war auch nicht die Einzige in ihrem Freundeskreis, die sich mit Fluchtgedanken beschäftigte. Andere hatten Ausreiseanträge laufen und Angst vor schlechten Nachrichten. Auch musste immer mit Spitzeln gerechnet werden. Stell dir vor, der Geist sagt beim Gläserrücken in großer Runde, die Anne H. wird nächste Woche einen erfolgreichen Fluchtversuch hinlegen. Deshalb ging das nicht, den Blick in die eigene Zukunft zu wagen. Anne und ihre Freunde aber waren von den ausgefeilten, wundersamen Geschichten der Geister fasziniert. Einmal war ein Geist da, der Bertolt Brecht gekannt hatte, und ein andermal ein Kind, das immer auf dem rechten Knie vom lieben Gott saß. Das war unterhaltsam und lustig. Während die Realität und die nahe Zukunft für die jungen DDR-Bürger beides nicht war, weder unterhaltsam noch lustig. So also kam es, dass Anne die Geister nicht nach ihrem eigenen Schicksal befragte, sonst hätte sie sich die Flucht, die Festnahme und den DDR-Knast vielleicht erspart.

Anne hatte damals in Magdeburg keinen Job, aber sie hatte Freunde. Die Freunde hatten Rotwein und der Rotwein hatte eine Kerze und die Kerze hatte ein Glas. Sie bildeten eine Runde, drehten das Glas um und stellten es in ihre Mitte auf einen Tisch. Dann legten sie ganz viele Zettel um das Glas: die Worte „ja“ und „nein“ und alle Buchstaben des Alphabets und die Zahlen eins bis hundert, jeweils in Zehnerschritten angeordnet. Jeder legte sachte einen Finger auf das Glas, dann begannen sie. Und wie toll es kribbelte, zuckelte und ruckelte, sobald Anne die Geister rief.

Dann tanzte das Glas.

©Suhrkamp Verlag©

Literaturangabe:

KHAN, SARAH: Die Gespenster von Berlin. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/ Main 2009. 190 S., 9,90 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag


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