MÜNCHEN (BLK) – Im Juni 2011 ist im btb Verlag „Erschieß die Apfelsine“ von Mikael Niemi erschienen. Aus dem Schwedischen hat Christel Hildebrandt übersetzt.
Klappentext: Niemis Held ist 16 Jahre alt und geht aufs Gymnasium. Er teilt seine Klasse in Hosenscheißer und Idioten ein. Die Hosenscheißer bekommen alles vorgesetzt und haben Eltern, die dafür sorgen, dass es ihnen im Leben gut geht. Die Idioten wissen, dass die Hosenscheißer immer siegen werden, finden sich jedoch damit ab und wollen nur nicht stören. Niemis Held ist fest entschlossen, nicht so ein kriecherischer Idiot zu werden. Auch wenn ihn seine erste große Liebe wie den letzten Dreck behandelt. Er gewinnt viele Feinde, aber auch einige Freunde. Wie das schwarzhaarige Mädchen aus dem musischen Zweig mit den grünen Augen. Oder Pålle, den sie mobben und der aus schwierigen Familienverhältnissen stammt. Den Hosenscheißern werden sie es schon noch zeigen – und auch der übrigen Welt...
Der 1959 geborene schwedische Autor Mikael Niemi veröffentlichte schon mehrere Gedichtsammlungen, Romane, Kinder- und Jugendbücher. Obwohl er schon früh den Wunsch hatte, Schriftsteller zu werden, schloss er zunächst eine Ausbildung zum Elektroniker ab. Niemis Werke wurden bereits mehrfach ausgezeichnet.
Leseprobe:
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EIN PAAR RATSCHLÄGE, BEVOR ICH STERBE
Dinge, die man beachten sollte, wenn man sich verliebt.
Erstens: Verlieb dich nicht. Und wenn man sich trotzdem verliebt? Dann such dir niemals das hübscheste Mädchen der Schule aus.
Und wenn man sich trotzdem in das hübscheste Mädchen der Schule verliebt? Dann betrachte es als Geisteskrankheit. Versuch, wieder gesund zu werden. Denk nicht mehr an sie.
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Und wenn man trotzdem an sie denkt? Halt bloß deinen Mund. Sag, was du willst. Aber nur nicht das. Lass es sie niemals wissen. Vielleicht hat sie schon etwas geahnt, bei deinem feuchten Dackelblick, aber dabei muss es bleiben. Sie wird sich nie in dich verlieben, nur weil du in sie verliebt bist, so funktioniert das nicht. Du möchtest natürlich glauben, dass ein Wunder passiert. Vielleicht hast du es mal im Film gesehen. In der Schlussszene, nach unzähligen Missverständnissen, schenkt er ihr rote Rosen, und sie schmilzt dahin, fällt ihm willenlos in die Arme. Es besteht eine Chance von vielleicht eins zu tausend, dass so was passiert. Neunhundertneunundneunzig Mal sagt sie Nein, aber vielleicht das letzte, tausendste Mal …
Fang nie an, über dieses tausendste Mal zu sinnieren. Dass ausgerechnet heute dein absoluter Glückstag ist, der Traumtag, an dem die Sterne perfekt für dich stehen. Sie wird Ja sagen. Sie nimmt die Rosen und …
Ich kaufe ein Dutzend Rosen und verstecke sie unter meiner Jacke. Ich warte und warte, und zum Schluss kommt sie aus dem ganzen Gewühl heraus. Sabina Stare. Alle anderen sind Schatten, doch um sie herum ist ein Lichtkegel. Und plötzlich bekomme ich Angst, fange an zu zögern, aber dennoch hole ich die Blumen heraus und gehe auf sie zu.
Und das Publikum merkt, dass da etwas im Busche ist. Die Schatten teilen sich. Alle verstummen, der ganze Schulflur zoomt die Szene heran. Ganz vorn steht sie und strahlt, das ist wie Röntgen, ich werde durchsichtig, ein Loch. Die Haut schält sich von den Händen, als ich ihr die Rosen hinstrecke, das Fleisch schmilzt zu Flocken, die Knochen leuchten kreideweiß, und ich kriege nur heraus:
„Hier.“
„Was soll das?“, fragt sie.
Meine Hand schießt nach vorn, so dass sie gezwungen ist, die Rosen zu nehmen.
„Weil ich dich liebe.“
Eine Welle durchläuft den Flur, die Hunderte von Zuschauern, ein ionisiertes Gas. Es ist wie im Film, obwohl es wirklich stattfindet. Und nach einer halben Sekunde wird allen die Komik der Situation klar. Da bricht das Lachen aus. Ein zerstückeltes Lachen von Zähnen, weißen Emailzacken, die alles zerhacken. Sie lässt die Blumen auf den schmutzigen Boden fallen, dreht sich um und geht. Ich bleibe stehen, während die Zähne immer noch kauen und essen, meinen Brustkorb bis auf die Knochen abnagen, bis aufs Herz, und da sterbe ich. Die ganze Schule sieht, wie ich sterbe. Es passiert hier und jetzt, vor aller Augen. Mein sechzehnjähriges Leben ist beendet.
Seit sechzehn Jahren bin ich grau. Ich sage das, als wäre es immer noch so, obwohl es vorbei ist. Ein sinnloses Leben war das, was ich da betrachte, ein Leben, das nicht den geringsten Abdruck hinterlassen hat. Seit ich klein war, habe ich mich immer in der Mitte gehalten. Nie war ich der Beste bei irgendwas, und immer war ich der gleichen Meinung wie alle. Ich habe schwimmen gelernt, als die halbe Klasse schwimmen konnte. Ich fing an, Hiphop zu mögen, als alle anderen Hiphop mochten, und ich hörte auf, es zu mögen, als es nicht mehr in war. Pizza war mein Lieblingsgericht. Blau war meine Lieblingsfarbe. Ich fieberte für denselben Fußballverein wie die anderen, mochte dieselben Filme, dieselben Automarken, die gleiche Kleidung. In der Essensschlange in der Kantine stand ich immer in der Mitte. Ich bin mittelgroß, mittelschwer, mitteltraurig, ich habe mich nie hervorgetan. So war mein Leben, und so hätte ich weiterleben können, eine graue Staubmaus, die von großen Füßen hin und her getreten wird, vollkommen unwichtig für die Welt. Mein Leben ist zu Ende, und ich bin wütend, während ich dies schreibe, der Stift zittert in meiner Hand, ich würde am liebsten losschreien, etwas kaputt machen, zerstören.
Schließlich hole ich die Blumenreste aus meiner Schultasche, sie sind verwelkt und stinken nach Beerdigung. Ich radle ins Industriegelände und finde eine Kiesgrube, in die ich sie werfe. Dann kippe ich eine Flasche Spiritus darüber, die ich aus dem Putzschrank geklaut habe, ich gieße die Flüssigkeit über die Stiele, ertränke die Blumenblätter. Anschließend werfe ich ein Streichholz. Das flackert auf, eine blaue Flamme schießt hoch, dann knistert es und fängt an zu rauchen. Eine Weile bleibe ich so stehen und sehe es brennen, mein sechzehnjähriges Leben. Ich opfere es. Alles verschwindet, verkohlt. Tränen steigen mir in die Augen, aber ich kann nichts machen. Alles muss weg, ausradiert werden. Bald bleibt nur noch ein ekliger, glimmender Haufen zurück.
Ein Kerl, der auf dem Rad vorbeifährt, starrt mich an und ruft:
„Was machst du denn da?“
„Würstchen grillen“, antworte ich.
Das kommt direkt aus dem Bauch. „Würstchen grillen.“
Mit einer Stimme, die neu, frech und mutig klingt. Eine Rebellenstimme. Sie scheint noch zu groß zu sein, trägt nicht so recht. Ich weiß noch nicht, ob mir das gefällt. Aber jetzt ist es zu spät, ich verlasse das glimmende Grab und radle nach Hause. Alles um mich herum ist frisch und neugeboren. Reingewaschen.
KAPITEL 1
Es ist nicht leicht, ein Klassenzimmer zu betreten, wenn man keine Haut hat. Wenn man rundum neu ist und empfindlich wie eine frisch geschlüpfte Libelle, die Hülle dünner als Seide, wenn man weiß ist wie ein Papier, auf das noch niemand etwas gekritzelt hat, weder Mutter noch Lehrer oder Freunde. Wenn man Schürfwunden kriegt und zu bluten anfängt, sobald einen jemand nur streift, dann kommt man schon ins Zweifeln. Dann holt man tief Luft. Man öffnet ein Loch im Gesicht, das Mund genannt wird, damit das Fruchtwasser herausgedrückt werden kann, und dann fängt man an, etwas Kaltes, Scharfes einzusaugen, das Luft genannt wird, mit kleinen spitzen Kügelchen darin, die Sauerstoff genannt werden und die in der Brust platzen wie Kohlensäurebläschen in der Cola, und dann kippt der Kopf mit der Stirn voran nach vorn und stößt gegen die Tür, die weich und fleischig ist und in alle Richtungen nachgibt, dass es platzt und einen Spalt reißt, und dann wird es leuchtstoffröhrenweiß.
Nur langsam treten Konturen hervor. Formen, die sich im Dunst bewegen, die flüstern, die sich in die eigene Richtung winden und rascheln. Dann ist das erste Kichern zu hören. Ein abgehacktes, flüsterndes Pisskichern, das schnell anwächst und Gesellschaft bekommt. Ein Murmeln aus dem Tal der Todesschatten, die Zombies erwachen mit keuchenden Ventilen. Es riecht nach Tod, der ganze Raum stinkt nach Obduktion und Verwesung, und man fängt schon an, alles zu bereuen, warum ist man nicht umgekehrt, was macht ein neugeborener Menschensohn unter diesen Spermawalen?
Man zwängt sich hinein, so läuft das, man tritt ein Loch in die Welt, und dort hinein presst man seinen Körper. Und diese Mulde, dieser Tubus, wird dich den Rest deines Lebens begleiten. Eine zähe Hülle, gerade mal so groß wie man selbst, die einem folgt, wohin man auch geht, eine eigene kleine Räumlichkeit. Und innerhalb dieser Höhle bestimmt man selbst. Aber der Rest, alles, was außerhalb ist, das ist etwas, über das man keinerlei Kontrolle besitzt.
In der Mittagspause schließe ich mich in eine der Toilettenkabinen ein und tue so, als würde ich scheißen, spüle ab und zu, wenn ich höre, dass jemand herein kommt, und versuche mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Es tut so verdammt weh in der Lunge, besonders in dem Bereich, wo das Herz sitzt. Ich höre Stimmen da draußen, jemand redet über den Idioten, der sich blamiert hat, haha, du hast doch bestimmt auch schon davon gehört, was gestern passiert ist, dieser Typ, der es probiert hat, der geglaubt hat, er würde es hinkriegen, ich hab es selbst gesehen, was für eine Flasche, haha, du hättest sein Gesicht sehen sollen, haha, wie er hinterher geguckt hat, ich dachte, der kippt um …
Erst als die Stunde anfängt, husche ich hinaus, und trotzdem, verdammt, als würde ein Dämon alles lenken, geht sie genau in der Sekunde vorbei, ich stoße fast mit ihr und ihren Freundinnen zusammen, sie weichen zurück und glauben, ich hätte das mit Absicht getan, dass ich mich wie eine Hyäne an sie heranschleiche und mich an sie schmeiße, und sie sagt:
„Verpiss dich! Hast du es immer noch nicht kapiert: Du sollst dich verpissen!“
Und die Meute hat uns bereits entdeckt, das Publikum steht da, und der Tratsch ist bereits in vollem Gange, bevor ich noch um die Ecke bin, er hat sich wieder an sie rangemacht, habt ihr das gesehen, der Kerl hat sie auf dem Klo abgepasst, man glaubt es kaum, der muss einen Totalschaden haben.
Es tut verdammt weh, es sich einzugestehen. So wird es bleiben. Mein altes Ich gibt es nicht mehr, ich bin gestorben und ein anderer geworden, aber das interessiert niemanden. Für die ist alles wie vorher. Die Welt ist dieselbe, und keiner merkt, dass ich ausgestiegen bin.
Der muss einen Totalschaden haben.
Du hättest sein Gesicht sehen sollen, haha …
Nach der Schule ging ich nach Hause und habe mich ins „Büro“ gesetzt, wie Mama es nennt. Ich habe kein eigenes Zimmer, weil wir nur in einer Ein-Zimmer-Wohnung leben, aber wir haben alles so eingerichtet, dass wir uns so wenig wie möglich auf die Nerven gehen. Das „Büro“ befindet sich in der Küche und besteht aus einem Schreibtisch mit einem uralten Computer, an dem Mama ihre Rechnungen bezahlt, einem Regal mit Ordnern und einem Aktenschränkchen, wo mir die beiden unteren Schubladen gehören. Die Küchentür kann geschlossen werden, wenn der andere Fernsehen guckt, und dort in dem Geruch vom Bratenfett nach dem Essen mache ich normalerweise meine Hausaufgaben für die Schule.
Das heißt: so habe ich es bis jetzt gemacht. Aber nun gibt es nur noch eins: aussteigen. Das Gymnasium links liegen lassen, die Schulbücher ins Altpapier werfen und das Zuchthaus verlassen. Mama wird wahnsinnig werden. Mich einen Sozialfall nennen. Aber lieber ihr Wutausbruch als noch ein einziger Tag mit diesen Erniedrigungen. Gleich morgen werde ich zum Arbeitsamt gehen. Anfangen zu stempeln. Den ganzen Winter mit kaputten Hosen herumlaufen, bestenfalls im Sommer einen Praktikumsplatz bekommen und Friedhöfe harken.
Mir war trübsinnig zu Mute. So hatte es ja nicht kommen sollen. Ich opferte schließlich mein altes Leben, um ein neues zu bekommen.
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Literaturangabe:
NIEMI, MIKAEL: Erschieß die Apfelsine. Aus dem Schwedischen übersetzt von Christel Hildebrandt. btb Verlag, München 2011. 240 S., 14,99 €.
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