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Glassco und Isherwood – Die Ausreißer

Die „Roaring Twenties“ im Spiegel zweier Selbstbiographien

© Die Berliner Literaturkritik, 01.04.10

Roland H. Wiegenstein

Das kennen wir doch seit Joyce’ „Porträt eines jungen Mannes als Künstler“, das noch vor dem Ersten Weltkrieg erschien. Es muss die Runde gemacht haben, bei angehenden Autoren zwischen den Kriegen. Etwa bei John Glassco (1909-1981), er riss schon im Alter von achtzehn Jahren von Montréal nach Paris aus, und bei Christopher Isherwood (1904-1986). Der verließ 1925 sein College in Cambridge, verzichtete auf sein Stipendium, ging zuerst nach London und 1929 nach Berlin. Beide wollten nichts anderes als Schriftsteller werden.

Von Glassco weiß man in unseren Breiten so gut wie nichts, zurückgekehrt nach Kanada schrieb er in der Tat einige Gedichtbände und Prosabücher (darunter auch erotische, meist unter Pseudonym), wurde ganz bürgerlich Bürgermeister einer kleinen Stadt und soll, wenn man der Encyclopaedia Britannica glauben darf, als „eleganter und klassischer“ Lyriker in seinem Heimatland angesehen gewesen sein. Nun könnte er auch hierzulande mit der deutschen Ausgabe seines Buchs „Die verrückten Jahre. Abenteuer eines jungen Mannes in Paris“ (englisch: „Memoirs of Montparnasse“, 1970) bekannt werden, das Louis Begley freundlich eingeleitet hat.

Freilich will man nach den ersten zwanzig Seiten Lektüre eher an eine Mystifikation glauben, so unverschämt gibt da jemand an. Sagt, etwa, dass er mit 18 (!) schon drei Jahre an der renommierten McGill-Universität studiert habe, ehe er (mit einem Monatsscheck von 100 Dollar von seiner leidlich wohlhabenden Familie versehen) nach Paris ausgerissen sei und sich gemeinsam mit seinem Freund Graeme Taylor (1907-1957) in die Vergnügungen der Seinestadt gestürzt habe. „In der ersten Woche“(man schreibt Februar 1928) „kamen wir kein einziges Mal aus Montparnasse heraus. Wir zogen von einem Café und Restaurant in das nächste. Arbeiten war für uns eher eine Pose als sonst etwas … Später stellte ich fest, dass es vielen anderen jungen Autoren auch ähnlich ging. Überhaupt ist Paris ein sehr heikles Pflaster für jemanden, der arbeiten will, wenn man nicht gerade phantasielos oder ernsthaft ist.“

Phantasie hatte der Neunzehnjährige genug und eine besondere Gabe, sich in die literarische Szene von Paris einzuschleichen. Er war charmant, wenn es denn sein musste auch aufdringlich, zudem waren Französisch parlierende Kanadier in der amerikanisch dominierten Szene eher selten. Zunächst hing er nur herum, besinnungslos begeistert von der Stadt, auch in ärmlichen Unterkünften. Als man ihm den Monatsscheck erst kürzte, dann ganz strich, weil sein Vater ein in einer obskuren Zeitschrift erschienenes Gedicht nicht für einen ernsthaften Arbeitsnachweis gehalten zu haben scheint, verdiente er ein paar Franc mit der maschinellen Abschrift von Manuskripten, ließ sich mal von einer besser gestellten Freundin aushalten, posierte als Darsteller für pornographische Fotos oder Mietliebhaber für reiche ältere Damen, er machte Ausflüge nach Nizza und Luxemburg und kehrte nach etwa einem Jahr, an Tuberkulose erkrankt, nach Kanada zurück.

Die ersten drei Kapitel seiner „Memoiren“ habe er noch in Paris niedergeschrieben, behauptete er später, die restlichen um 1930, als er mit seiner Lungenkrankheit im Hospital in Montréal gelegen habe. Diesen Schwindel mindestens hat Begley, bei aller sonstigen Sympathie für den leichtlebigen Angeber, korrigiert, sie entstanden erst 1958/60. Sie sind im Ton auch ein wenig anders, Glassco musste sich in die Abenteuer und seine unbedenkliche Leichtfertigkeit hineinversetzen und Begleys Annahme, es handele sich doch eher um den „Roman“ eines jungen Mannes als um eine wahrheitsgetreue Selbstbiographie, dürfte stimmen. Immerhin, seine Unbekümmertheit hat er beibehalten, zuerst war sie die des Zwanzigjährigen, dann die eines Stils.

Das wäre alles nicht so wild (und interessant), wie es sich liest, hätte John Glassco nicht wirklich die literarische Szene kennengelernt: Hemingway etwa oder Man Ray. Einige Namen hat er dabei im Buch anonymisiert (Literaturkritiker haben sie in einem Anhang kenntlich gemacht), andere in Klartext gelassen. Langeweile dürfte er selten gehabt haben. Vielmehr schrieb er tatsächlich einiges, wenn ihn nicht Bordellbesuche und Völlereien (die Dekors und Speisekarten sind erlesen!), die häufigen Sauftouren und Amouren zu schwach und faul sein ließen. Seine reuelosen sexuellen Ausschweifungen beschreibt er mit Takt nur in Andeutungen, bis hin zum Tripper, den ihm ausgerechnet eine reiche Frau (die einzige, die er geliebt zu haben vorgibt und in der die Kommentatoren gleich zwei verschiedene Personen erkannt zu haben glauben) angehängt hatte.

Was dies Buch mit seinen Rodomontaden und Aufschneidereien gleichwohl spannend und amüsant macht, ist nicht nur sein fester Wille, die Berühmten zu sammeln – er hat ja tatsächlich die literarischen Leitfiguren der Avantgarde von damals mindestens gelegentlich frequentiert: Joyce, Breton, Gertrude Stein –, sondern sein von kaum einem Vorurteil behinderter „fremder Blick“. Er beschreibt seine Begegnungen mit erstaunlicher Treffsicherheit, so wie er auch Orte, Stimmungen, Gelegenheiten plastisch festhält: Derart entsteht wirklich ein Bild jener „Roaring Twenties“ à la française, dessen Selbstbezüglichkeit verblüfft. Sie ließ ihn selbst Hunger klaglos ertragen. Doch was außerhalb der verschiedenen Cliquen passierte, kam Glassco und seinesgleichen nicht in den Blick. Nur einmal deutet es einer der Gefährten an (wir sind schon auf Seite 249): „Vielleicht hast du noch nichts davon gehört, es ist an den Börsen von New York, London, Paris und Tokio zu erheblichen Einbrüchen gekommen, so dass es wirklich so aussieht, als wäre die Party vorbei. Jedenfalls fahren alle nach Hause.“ 1930 auch Glassco. Von der Weltlage immer noch ohne Begriff, zwang ihn die Tbc zur Rückkehr.

Diese politische Bewusstlosigkeit teilte er damals mit Christopher Isherwood, der später ein aufmerksamer politischer Literat werden sollte. „I am a camera“ heißt es in einem Film nach seinen ersten drei, Ende der dreißiger Jahre geschriebenen Büchern (von denen „Sally Bowles“ von 1937 auch zur Vorlage zu Bob Fosses Musical „Cabaret“ wurde). Diese Begabung, wie eine Kamera Bilder in sich aufzunehmen und sie schriftlich wiederzugeben (die er mit Glassco teilt), konnte der junge Christopher ab 1923 auf der Public School von Repton und an der Universität Cambridge ausleben: So schwärmt er von seinem Geschichtslehrer Holmes und verkapselt sich gemeinsam mit seinem Freund Edward Upward, der bei ihm Chalmers heißt (auch Isherwood arbeitet mit Anonymisierungen), in ausschweifenden Romanvorstellungen, gemeinsam wollen sie eine gothic novel schreiben (wenn sie nicht gerade mit surrealistischen Gedichten befasst sind.)

 

Literaturangabe:

GLASSCO, JOHN: Die verrückten Jahre. Abenteuer eines jungen Mannes in Paris. Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Fienbork, eingeleitet von Louis Begley. Carl Hanser Verlag, München 2010. 336 S., 21,50 €.

ISHERWOOD, CHRISTOPHER: Löwen und Schatten. Eine englische Jugend in den zwanziger Jahren. Aus dem Engl. und mit einer Einleitung von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2010. 320 S., 25 €.

 

Weblinks:

Hanser Verlag

Berenberg Verlag


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