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„Glückliche Ehe“

© Die Berliner Literaturkritik, 25.06.10

BERLIN (BLK) – Eine ergreifende Geschichte über Anfang, Werden und Abschied einer großen Liebe „Glückliche Ehe“ ist die Geschichte einer fast dreißigjährigen Ehe, von ihren beschwingten Anfängen bis zu ihrem durch Krebs erzwungenen Ende. Die Leichtigkeit und Komik des Kennenlernens in den ersten Wochen wechselt dabei ab mit den bitteren, aber auch erfüllten letzten Monaten von Margarets Leben, als sie sich von Familie und Freunden verabschiedet – und von ihrem Mann Enrique. „einen brillanter, lebenskluger, zutiefst menschlicher Roman, der ohne jede Sentimentalität Leben, Lieben und Sterben seiner Protagonisten inszeniert.“ (Süddeutsche Zeitung, 7.4.2010)

Rafael Yglesias, geboren 1954 in New York City, ist der Sohn des Schriftstellerpaars Jose und Helen Yglesias. Mit 17 Jahren brach er die High School ab, um seinen ersten Roman zu veröffentlichen, sieben weitere folgten. Als Drehbuchautor schrieb er u. a. „Der Tod und das Mädchen“, „Les Miserables“, „From Hell“ und „Dark Water“. Von 1977 bis zu ihrem Tod 2004 war er mit Margaret Joskow verheiratet. „Glückliche Ehe“ ist sein erster Roman seit 13 Jahren. Yglesias hat zwei erwachsene Söhne und lebt in New York.  

Klappentext: Als der 21-jährige Enrique Sabas im wildromantischen Manhattan der Siebzigerjahre auf die drei Jahre ältere Margaret Cohen trifft, weiß er, dass sie die Liebe seines Lebens ist. Doch die familiären Gegensätze könnten größer nicht sein: Er ist ein literarisches Wunderkind, ein eigenbrötlerischer Schulabbrecher, der sich ganz dem Leben der Boheme hingibt, wohingegen die lebhafte, attraktive Margaret aus einem bürgerlichen Haushalt kommt und die kontrollierte Emotionalität ihrer Mutter geerbt hat. Die erotischen Abenteuer und Missgeschicke in den ersten Wochen ihres Kennenlernens sind verwoben mit Szenen ihrer Ehe – die Erziehung der Kinder, der Verlust eines Elternteils, die Versuchungen eines allzu leichten Seitensprungs –, bevor Margaret mit Mitte fünfzig ihrer Krebserkrankung erliegt. Eine wahrhaftige Geschichte über ein gemeinsames Leben – und darüber, was eine glückliche Ehe ausmacht. (guz)

Leseprobe:

© Klett-Cotta ©

LIEFERSERVICE

Er hatte sie sich bestellt. Während er darauf wartete, dass auf seinem neuen Trinitron (diese Farben, dieses klare Bild, welch Wunder der Technik!) Saturday Night Live anfing, erschien auf seine Bestellung die Traumfrau, von der er gar nicht gewusst hatte, dass er von ihr träumte, bis ihn ihre großen blauen Augen, von der Dezemberkälte tränend, erstaunt und amüsiert musterten. Der Lieferant war sein zuweilen nerviger Freund Bernard Weinstein, der, stoffelig wie immer, ihre Namen in Richtung Fußboden murmelte, „Enrique, Margaret – Margaret, Enrique“, und sich prompt vor ihr in das neue Studio-Apartment drängte. Neu für Enrique Sabas und überhaupt. Das fünfstöckige Haus ohne Fahrstuhl in der Eighth Street in Greenwich Village war praktisch entkernt worden und seit zwei Monaten frisch saniert, so dass die erhöhten Preisbindungsmieten jetzt das Marktniveau erreichten. Eine Woche nach dem Verfugen der letzten Badfliese war Enrique eingezogen. Also war in Enriques Leben alles nagelneu, von den Leitungen bis zum Fernseher, als jetzt auch noch diese neue Frau hereinspazierte, zum einzigen Luxus des Apartments, einem echten Kamin, ging. Ein Lavastrom von glänzend schwarzem Haar floss ihr die Schulter herab, als sie ihre rote Baskenmütze abnahm. Dann wandte sie der Komposition aus Bleichziegeln und hellem Marmor den Rücken zu und heftete ihre tränenden Suchscheinwerfer auf Enrique, während sie den Reißverschluss einer schwarzen Daunenjacke öffnete und ein feuerwehrroter Wollpullover zum Vorschein kam, der sich eng an ihren schlanken Oberkörper und ihre kleinen Brüste schmiegte. Beim Anblick dieses bourgeoisen Striptease durchzuckte Enrique ein Stromstoß, der sich so real anfühlte, als hätte er den Warnaufkleber ignoriert, die Rückwand seines neuen Trinitron geöffnet und den Finger irgendwohin gesteckt, wo er nichts zu suchen hatte.

Ihre blauen Augen fixierten ihn immer noch, während sie sich in einen Regiestuhl am Kamin fallen ließ, die dünnen Arme aus den Daunen wand und mit einem zierlichen Heben und Rollen der schmalen Schultern die Jacke schließlich abschüttelte. Sie hatte das körperliche Selbst bewusstsein eines Jungsmädchens, hakte ein Bein über die Armlehne des Stuhls, als hätte sie vor, sich darauf zu setzen. Stattdessen blieb sie, wie sie war, die Beine gespreizt, das geschmeidige Becken in einer ausgebleichten Jeans. Lange konnte Enrique da nicht hinschauen. Er betrachtete dagegen ihren außerordentlich schmalen Fuß, so schmal, dass ihm nur, wie Enrique später erfuhr, Sondergrößen passten. Er wusste weder, dass so kleine Füße für eine Frau, die Schuhe liebte, ein immenses Problem waren, noch, dass der schwarze Wildlederstiefel, der hin und her wippte, ihr des Preises wegen Seelenqualen verursacht hatte. Für ihn, einen ignoranten einundzwanzigjährigen Mann, war dieser Fuß in seinem Stiefel eine Provokation, nicht weil er so klein war, sondern weil er unablässig in Enriques Richtung kickte, als sollte er ihn dazu bringen, irgendetwas zu tun, um sie zu beeindrucken : Zeig was! Zeig was! Zeig was!  

Er konnte sich schlecht über diese fordernde Präsenz beschweren, weil er sich die Frau ja selbst ins Haus bestellt hatte, so wie das chinesische Fastfood von Charlie Mom, dessen Reste jetzt in dem roten Mülleimer unter der blitzenden Edelstahlspüle steckten. Geblitzt hätte die Spüle ohnehin, denn er kochte kaum je in seiner neuen Küche, die eine Treppenstufe erhöht war, aber offen zum schmalen Schlaf-Wohn-Arbeitsbereich des Apartments, das er sich eigentlich nicht leisten konnte und das, obgleich schon seine dritte Bleibe, seit er das Reich seiner Eltern verlassen hatte, sein erstes wirklich eigenes Zuhause war, da er die beiden vorherigen Wohnungen mit jemandem geteilt hatte – in der einen auch das Schlafzimmer, in der anderen nicht. Er sah den mürrischen Bernard an, um ihm irgendein hilfreiches Wort abzuringen, denn, okay, er hatte sich das hier aus der Menükarte seines Freunds ausgewählt, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass die Nudeln so scharf sein würden.

Bernard hatte zwar Margarets außergewöhnliche Qualitäten gepriesen, aber nur auf seine typisch nebulöse Weise. Bei seinen ausschweifenden Beschreibungen hatte er weder die unglaublich großen, leuchtend blauen Augen erwähnt, die es von der Wirkung her mit Elizabeth Taylor aufnehmen konnten, noch das eiskremzarte Weiß ihrer sommersprossigen Haut. Dabei war Bernard ein heterosexueller Mann, und er hätte allemal ein Wort darüber verlieren können, dass sie perfekt proportionierte Beine hatte, dass sie schlank war, trotzdem einen Hintern und Brüste hatte und dass – soweit Enrique sich hinzuschauen gestattet hatte – man geneigt war, angesichts dieser reizvoll geöffneten Schenkel, schmal und dennoch wohlgerundet, den Verstand zu verlieren, weshalb doch, Himmelherrgott, eine Warnung angebracht gewesen wäre.

Enrique hatte Bernard damit aufgezogen, er solle Margaret doch mal vorzeigen, als sie wie gewohnt bei ihrem Nachmittagsfrühstück im Homer Coffee Shop saßen und Bernard wieder in einem fort von seiner tollen Freundin von der Cornell University redete, sich aber nicht breitschlagen ließ, ihn mit ihr bekannt zu machen. ( Margaret Cohen, nörgelte Enrique, welche jüdischen Eltern nennen ihre Tochter denn Margaret? Ein Einwand, der vielleicht eher überzeugt hätte, wenn er nicht ausgerechnet von jemandem gekommen wäre, der Enrique Sabas hieß und mit einer aschke nasischen Mutter selbst Jude war.) Bernard erklärte, er wolle nicht Freunde aus verschiedenen Ghettos seines Lebens zusammenbringen. „Warum?“, wollte Enrique wissen. Bernard zuckte nur die Achseln. „Ich bin eben neurotisch.“ „Quatsch“, sagte Enrique. „Du willst nur deine ganzen sorgsam gedrechselten Betrachtungen auf verschiedene Dinnerpartys verteilen.“ „Was für Dinnerpartys?“ „Okay, Schüssel Chili. Aber wenn du all deine Freunde nur einzeln siehst, kannst du jeden deiner kostbaren Gedanken siebenmal ausbreiten.“ Bernard lächelte matt. „Nein, ich habe Angst, wenn meine Freunde sich treffen, finden sie sich gegenseitig toller als mich.“ „Du hast Angst, das fünfte Rad am Wagen zu sein?“ „Ich habe Angst, überhaupt kein Rad zu sein.“

Enrique konnte das aus Bernards Sicht gut verstehen, aber in seiner äußerst widerstandsfähigen Eitelkeit glaubte er, Bernards Paranoia beziehe sich nur auf ihn, weil er der Schriftsteller war, für den sich Bernard nur ausgab. Gerade mal einundzwanzig, hatte Enrique schon zwei Romane veröffentlicht, und ein dritter würde bald folgen, während Bernard mit fünfundzwanzig lediglich ein permanent umgeschriebenes Manuskript als Rechtfertigung dafür vorweisen konnte, dass er die gleiche Künstleruniform aus schwarzer Jeans und knittrigem Arbeitshemd trug wie Enrique. Der stolze Enrique glaubte, Bernard enthalte ihm seine Freunde – und insbesondere Freundinnen – deshalb vor, weil sich, wenn die Welt sie beide auf einmal sähe, neben dem wahren Kronprinzen der Literatur der falsche Thronbewerber schnell als solcher entlarven würde.

Noch immer nicht bereit, ein Treffen zu arrangieren, erging sich Bernard weiter in unspezifischen Elogen auf Margaret. „Sie ist wirklich total außergewöhnlich. Ich kann es nicht in banale Worte fassen, aber sie ist stark und gleichzeitig feminin, intelligent, ohne prätentiös zu sein. In vielem ist sie wie die Heldinnen der amerikanischen Dreißigerjahrefilme, besonders der Schwarzen Serie, aber auch der Sturges-Komödien“, und so weiter und so fort, eine Lobesflut, die einen kirre machte, weil sie alle erdenklichen Qualitäten beschwor, ohne konkret auf irgendetwas einzugehen. Die unpräzise Beschreibung schien Enrique zu bestätigen, dass Bernard ein schlechter Schriftsteller war. Keine seiner Margaret-Geschichten kam zu einem (sexuellen oder sonstigen) Höhepunkt oder veranschaulichte ihr angeblich so außergewöhnliches Wesen. Nachdem Enrique den fünften Homer-Kaffee in sich hineingekippt hatte, verlegte er sich auf die Strategie, ihre Existenz zu bezweifeln. Es war der Montag der Thanksgiving-Woche 1975 , und er hatte fast ein Jahr quälenden Zölibats hinter sich. Er erklärte diese Margaret für ein Konstrukt, eine boshafte Phantasie, die Bernard ersonnen hatte, um ihn, den einsamen, sexuell ausgehungerten Enrique, zu foltern.  

Bernard erblasste – was bei seinem bleichen, ausdruckslosen Gesicht ein ganz schönes Kunststück war. Bernard maß keine eins siebzig und war eher schmächtig, aber der große Kopf mit der schwarzen Haarkrause verlieh ihm eine stärkere Präsenz, vor allem in einer Coffee-Shop-Sitznische. Dieser Kopf wackelte kurz, ehe Bernard protestierte, dass er nie einen Genossen (gemeint: einen ebenfalls unbeweibten Mann) foltern würde. „Ich erspar's dir nur.“ „Du ersparst mir was?“ „Sie wird nie mit dir ausgehen.“ Da er das für ein Geständnis hielt, hob Enrique die Hand, um in Richtung eines unsichtbaren Geschworenengerichts zu gestikulieren, machte damit aber ungewollt den Kellner auf sich aufmerksam. Der hob die buschigen griechischen Augenbrauen und fragte: „Zahlen?“ Enrique schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem unmöglichen Freund zu. „Du erzählst mir die ganze Zeit von dieser schönen – „ „Dass sie schön ist, hab ich nicht gesagt“, fiel ihm Bernard ins Wort. „Dann ist sie also hässlich?“ „Nein!“ „Unscheinbar?“ „Mit Klischees kann man sie nicht beschreiben.“ „Bernard, ich denke nun mal in Klischees, also bitte. Ist sie groß? Was hat sie für Titten? Wenn es sie gibt, könntest du mir das sagen.“

Bernard sah Enrique verächtlich an. „Das ist doch albern. Ich könnte diese Details doch leicht erfinden.“ „Ach ja?“, schoss Enrique sarkastisch zurück. „Da habe ich meine Zweifel. Sich die Größe von Brüsten vorzustellen – ich glaube, dass das deine kreativen Fähigkeiten übersteigt.“ „Arsch“, sagte Bernard und meinte es auch. In Bernards Augen waren seine Breitseiten gegen Enriques Talent nur freundschaftliche Frotzeleien, weil Enrique ja schon veröffentlicht hatte, während für ihn jede negative Bemerkung von Enrique gleich grausam und tödlich war.

„Selber Arsch, weil du sagst, sie würde nie mit mir ausgehen“, gab Enrique zurück und meinte es ebenfalls, denn in seinem tiefsten Inneren fürchtete er, dass keine begehrenswerte Frau je mit ihm ausgehen würde. Verstärkt wurde diese Angst noch, weil er mit Frauen einerseits zwar einigermaßen erfahren war, andererseits auch wieder überhaupt nicht. Er hatte schon mal dreieinhalb Jahre mit einer Frau zusammengelebt, da er im zarten Alter von sechzehn Jahren neben einem ersten Verlagsvertrag auch eine feste Freundin hatte ergattern können. Vor dieser Beziehung mit Sylvie hatte er nur einmal Geschlechtsverkehr gehabt (ein Klassiker: so schnell wie möglich den Zustand der Jungfräulichkeit überwinden, kurz und ernst wie eine spätnächtliche Durchsage im Fernsehen). Seit ihrer Trennung vor achtzehn Monaten war Enrique nur mit einer einzigen Frau zusammen gewesen, und da hatte er nicht gekonnt. Er hatte also schon oft Sex gehabt, aber nur zwei Frauen – dieselbe Anzahl wie die der Bücher, die er veröffentlicht hatte.

Der Grund seiner sexuellen Verunsicherung war, dass Sylvie sich einen anderen zugelegt hatte. Sie hatte ihm zunächst nur erklärt, sie werde für ein paar Wochen ausziehen, damit sie mal „Pause“ machten. Enrique hatte sie daraufhin wüst beschimpft, sie „treibe es mit einem anderen“. Zu seinem Entsetzen hatte sie zugegeben, dass er recht hatte, aber gleichzeitig beteuert, sie liebe ihn genauso sehr wie seinen Rivalen; sie brauche Zeit, hatte sie behauptet, um herauszufinden, wen sie mehr liebe. Enrique war zu sehr Latino, um sich auf eine solche Konkurrenzsituation einzulassen, und zu sehr Jude, um Sylvie die Ambivalenz zu glauben. In seinen Augen wollte sie nur nicht diejenige sein, die die Beziehung beendete, sie wollte, dass er diesen schmutzigen Job übernahm, was er auch prompt tat, indem er ihr ein Ultimatum stellte, brüllend („Er oder ich!“), und aus der Wohnung stapfte, um allein in den Straßen von Little Italy zu heulen.

Enrique kam gar nicht auf die Idee, dass Sylvie sich von ihm missachtet fühlte. Er war wütend, als sie ihn tränenüberströmt fragte, ob er sie liebe – eine Viertelstunde nachdem sie gestanden hatte, ihm Hörner aufgesetzt zu haben. Er wollte nicht hören, dass sie sich zurückgewiesen fühlte, weil ihm nur noch danach war, sich in einer Ecke zusammenzurollen und zu sterben. Er ließ sich nicht mal dazu herbei, auf ihre Frage zu antworten, weil ja wohl angesichts seines Schmerzes offensichtlich war, dass er sie liebte und sie während der ganzen Zeit ihres Zusammenseins geliebt hatte. Er war das Opfer und sie die Mörderin, was Enrique, jung, wie er war, für moralische Kategorien hielt. Sie hatte dreieinhalb Jahre mit ihm zusammengelebt, praktisch sein ganzes Erwachsenenleben, wenn man denn die Zeit zwischen sechzehn und zwanzig als Erwachsensein bezeichnen konnte. Sie hatte ihn in dieser Zeit durch und durch kennengelernt und warf ihn jetzt einfach auf den Müll wie den Schwarzweißfernseher vom letzten Jahr, als wäre er minderwertig, nicht mehr zu gebrauchen. Kurz, er war abserviert worden, und wenn er auch öffentlich ihre Trennung mit unüberbrückbarer geistiger und seelischer Verschiedenheit begründete, glaubte er doch in der dunklen Tiefe seiner Seele, dass ihr der Schwanz des anderen Typen besser gefiel. So wie sein zweiter Roman weniger Beachtung gefunden und sich sehr viel schlechter verkauft hatte als der erste, hatte auch sein Liebesleben einen steilen Absturz erlitten, der der Anfang einer desolaten Zukunft schien.

„Sie existiert nicht, Bernard, deshalb kannst du sie nicht beschreiben“, fauchte Enrique gekränkt aus seiner Ecke der roten Kunstledernische. „Du bist so schlecht im Erfinden von Figuren, dass du nicht mal die ideale Frau hinkriegst.“ Bernards langes, käsiges Gesicht starrte ausdruckslos ins Leere. Das war sein üblicher Ausdruck, abgesehen von einem verächtlichen Kräuseln der Oberlippe, das sich zeigte, wenn er den Bankrott traditioneller Formen im Roman – wie Realismus, chronologischer Aufbau oder Erzählen in der dritten Person – verkündete. „Ideale Frau“, knurrte er abschätzig. „Das ist absurd. Es gibt keine ideale Frau.“ Nervös wegen der fünf Becher Kaffee, schlug Enrique mit der Faust auf den Resopaltisch, dass der sechste Becher wackelte. „Das ist überhaupt nicht absurd!“, rief er. „Ich meine – ideal für mich! Relativ ideal!“ Bernard lachte höhnisch. „Relativ ideal. Das ist wirklich lächerlich.“ Enriques gelasseneres, klügeres Selbst wusste, dass er sich von Bernard nicht so leicht auf die Palme bringen lassen sollte, dass Bernard einfach lachhaft war und jeder vernünftige Mensch ihm, Enrique, recht gäbe. Also schien es doch unfair, dass er im Moment wohl eingestehen musste, Bernard an Idiotie noch übertroffen zu haben.

Bernard, zufrieden mit seinem Sieg, zog ein noch ungeöffnetes Päckchen filterlose Camel aus der Brusttasche seines Arbeitshemds und begann mit einem komplizierten Ritual. Er schlug das Päckchen mindestens ein Dutzend Mal auf den Tisch, nicht etwa ein- oder zweimal, wie es Enrique genügte, um den Tabak seiner filterlosen Camel festzuklopfen. ( Sie bevorzugten beide denselben Schnellzug zum Lungenkrebs.) Dann vollführten Bernards nikotingelbe, spitze Finger ein langsames Ballett, um die Zellophanhülle zu entfernen. Er begnügte sich nicht damit, an dem roten Streifen zu ziehen, durch den es Philip Morris einem erleichterte, die Oberseite des Päckchens freizulegen, nein, er entblößte die ganze Packung, was Enrique so widerwärtig fand, dass er ihn anherrschte: „Warum machst du das ganze Zellophan ab?“

Bernard antwortete übertrieben geduldig und herablassend: „Damit ich weiß, dass es mein Päckchen ist. Wir sind nun mal beide Camel-Raucher.“ Er deutete mit dem Kinn auf Enriques zellophanbekleidete Schachtel.

„Jetzt bin ich auch noch ein Schnorrer!“, schrie Enrique und schlug wieder auf den Tisch. „Du hast diese Margaret erfunden! Deshalb habe ich dich letzten Monat nicht mit ihr im Riviera Café gesehen. Nicht, weil du auf der anderen Seite gesessen hast! Du warst gar nicht mit ihr dort, weil sie Scheiße noch mal gar nicht existiert!“

Bernard steckte sich die Zigarette zwischen die vollen, trockenen Lippen und ließ sie dort baumeln. „Du bist kindisch“, murmelte er und zündete sich dabei die hüpfende Camel an.

Von Bernard und sich selbst genervt, kramte Enrique seine Brieftasche aus der Gesäßtasche seiner schwarzen Levi's und entnahm ihr alles, was sie an Geld enthielt: einen Zehndollarschein, gut und gern vier Dollar mehr als sein Anteil am Frühstück plus Trinkgeld. Spanischer Stolz siegte über den Geiz oder vielleicht auch jüdische Selbstgerechtigkeit über sozialistische Ideale oder am ehesten wohl eine dramatische Ader über graue Mathematik, und so stand er abrupt auf, stieß sich schmerzhaft das Knie am Tisch, schleuderte aus Versehen den Ärmel seines Army-Parkas in den vollen Aschenbecher und warf Bernard seine Barschaft hin. Während er sich mit dem rechten Arm über den linken Ärmel wischte, verkündete er : „Frühstück geht auf mich, du mieser Lügner.“ Obwohl er mit halbangezogenem Parka (und noch dazu verkehrt herum) hinausrauschte, glaubte Enrique dennoch, einen guten Abgang hingelegt zu haben, und fühlte sich in diesem Urteil bestätigt, als Bernard am nächsten Tag anrief, um zum einen für den Pokerabend zuzusagen, der in derselben Woche bei Enrique stattfinden würde, und um zum anderen schließlich zu fragen : „Bist du Samstag zu Hause?“ „Ja ...“, sagte Enrique, indem er das Wort gelangweilt dehnte. „Ich gehe mit Margaret essen. Danach bringe ich sie mit zu dir. So um elf? Ist das okay?“ „Ich bin hier“, sagte Enrique und verkniff sich das Lachen, bis er aufgelegt hatte.

Die Behauptung, Margaret sei nur eine Fiktion, war tatsächlich der perfekte Köder gewesen. Und ob sie real war! So beängstigend real sogar, dass er, obwohl der wildlederbekleidete Fuß immer noch wippte, stur Bernard fixierte. Sein bescheuerter Freund hatte sich an den kleinen, runden Massivholztisch rechts vom Kamin gesetzt. Er hatte sein (für dieses Wetter) zu knappes, schwarzes Lederjäckchen angelassen und griff jetzt in die Innentasche, um ein neues Päckchen Zigaretten hervorzuziehen. Er begann wieder mit dem abartigen Zigarettenritual und führte auf dem hellen Holz des Tischs sein Bartók-Konzert für Camel ohne Filter und Zellophan auf.

Nachdem seine Gäste also Platz gefunden hatten, setzte sich Enrique auf seine Bettcouch, die gegenwärtig dank zweier länglicher, mit blauem Kord bezogener Schaumgummikissen Couchgestalt angenommen hatte. Sofort ging ihm auf, dass dies keine günstige Position war, weil er vor der Wahl stand, geradeaus auf Margaret zu schauen, die breitbeinig in seinem Regiestuhl saß, oder aber den Hals nach rechts zu verdrehen, um Bernard, den modernen Nikotinkomponisten, im Blick zu haben, denn sein Gesichtsfeld war nicht weit genug, um beide anzusehen und so sein wahres Interesse zu verbergen.

Also erhob er sich erst einmal wieder. „Aschenbecher?“, fragte er, schob sich hinter Bernard durch und stieg die Stufe zum Küchenbereich hinauf. Er suchte den gläsernen Aschenbecher, den er bei Lamston's, gleich um die Ecke an der Sixth Avenue, gekauft hatte. Er war stolz darauf, dass in seiner Wohnung alles neu war. Er mochte den Massivholzküchentisch, und sein langer Schreibtisch unter den beiden Fenstern zur lauten Eighth Street bot einer achtköpfigen Pokerrunde Platz. Er war begeistert von dem Farbfernseher, der zwischen Schreibtisch und Kamin stand, und genoss den Anblick der neuen, unbenutzten Töpfe und Pfannen, Utensilien, Teller und Schälchen in der Küche.

Als er hinter dem einen Meter tiefen Wandvorsprung verschwand, auf dessen Rückseite sein Herd stand, fiel ihm ein, dass er ja Gastgeber war. „Möchte jemand was? Wein? Cola? Kaffee?“ Und während er einen Blick auf seinen Mülleimer warf und abzuschätzen versuchte, was sich von dem chinesischen Fastfood und den dazugehörigen Gratisgaben noch retten ließ, setzte er skeptisch hinzu: „Tee?“ „Bier“, sagte Bernard. „Bier“, wiederholte Enrique und machte den Kühlschrank auf. Er schaute hinein, obwohl er die Antwort schon wusste. „Sorry. Kein Bier. Wein?“, ergänzte er sein Angebot, da er eine Flasche Mateus besaß, einen billigen Wein, den Leute wie er schätzten, weil sich die unkonventionell geformte Flasche in einen Kerzenhalter umfunktionieren ließ, um dessen hängende Schultern das heruntergelaufene Wachs eine dicke Stola bildete. „Scotch“, sagte Bernard, als wäre die Sache damit geregelt. „Kein Scotch da, Bernard. Wie wär's mit einem erstklassigen Mateus?“ “Mateus?«, rief Margaret, und es war nicht klar, ob ihr Ton Verblüffung oder Verachtung ausdrückte.

Enrique sah zu seinen Gästen hinüber und fragte Margaret, ob das heiße, sie wolle welchen. Beunruhigt bemerkte er, dass die blauäugige Schönheit das rechte Bein von der Armlehne genommen und sich um neunzig Grad nach links gedreht hatte, um seine Aktivitäten in der Küche verfolgen zu können, was hieß, dass ihr der Regiestuhl jetzt als eine Art unbequem aussehende Hängematte diente. Ihr Rücken lehnte nicht mehr an dem Segeltuchstreifen, sondern presste sich an die rechte Armstütze, was nicht ganz schmerzfrei sein konnte, obwohl die Fichtenholzkante durch ihre Daunenjacke abgepolstert war. Ihre Beine hingen über der linken Armlehne, so dass die schmalen Hüften genau auf ihn ausgerichtet waren. In seiner fiebrigen Phantasie bot sie sich ihm dar – wenn auch Bernard noch zwischen ihnen saß und Margarets Sitzhaltung durchaus auch als Einladung an ihn hätte verstehen können. Sie hob den rechten Arm, um sich beiläufig eine hübsche Kaskade schwarzer Kringellocken hinter das perfekt geformte Ohr zu stecken. Ihr Haar war überall glatt außer an den Schläfen, bemerkte er, war in weiblichen Dingen allerdings zu wenig beschlagen, um beurteilen zu können, ob das Natur war oder nicht. Als er das Mädchen dort sitzen sah, in dieser dem Design seines Stuhls trotzenden Pose, wusste Enrique plötzlich nicht mehr, was er sie hatte fragen wollen.

Ein breites Lächeln entblößte erstmals Margarets Zähne und damit einen kleinen Schönheitsmakel. Die Zähne waren zu klein für ihren großzügigen Mund und standen auf Abstand wie die eines Kindes. „Du hast wirklich einen Mateus?“, sagte sie, und ein breites Grinsen stand ihr im sommersprossigen Gesicht. „Ja, irgendwer muss ihn ja kaufen“, gab Enrique beleidigt zurück. „Keinen Scotch? Keinen Jack Daniel's?“, fragte sie lachend. „Keine harten Sachen“, gestand Enrique und ließ in gespielter Scham den Kopf hängen. „Nur billigen Wein.“ „Hab's dir ja gesagt“, sagte Bernard. Enrique schloss die Kühlschranktür – vielleicht ein bisschen zu vehement. „Was hast du ihr gesagt?“, wollte er wissen. „Dass du nicht trinkst“, sagte Bernard, wobei eine unangezündete Zigarette zwischen seinen Lippen tanzte wie ein Dirigentenstab. Er legte den Kopf eines Streichholzes an die rauhe Reißfläche und klappte den Deckel des Briefchens darüber. Enrique sah zu, wie Bernard das Streichholz in einem eleganten Schwung wieder herauszog und es sich vorschriftsmäßig in der Luft entzündete. Ein paar Monate zuvor hatte Enrique bei einer ihrer nachmittäglichen Frühstückssitzungen Bernards beneidenswerte Technik nachzuahmen versucht. Er hatte das Streichholz problemlos entzündet, aber gleichzeitig auch das ganze Briefchen, das zu einem Feuerball explodiert, ihm aus der Hand geschnellt und davongezischt war, was zwei in der Nähe sitzende ältere Gäste zu Tode erschreckt, Bernard ein hochmütiges Lächeln entlockt und den Kellner erzürnt hatte, weshalb er ihnen, nachdem er das Brandgeschoss ausgetreten hatte, an diesem Tag nur noch zwei mickrige Becher von dem Gratis-Nachfüllkaffee servierte. Spätere Versuche, Bernards Technik zu meistern, hatten ähnliche Ergebnisse gezeitigt.

„Wie kommt's, dass du nichts trinkst?“, fragte sie und sah ihn mit den leuchtend blauen Augen an. „Ich trinke wohl“, wehrte sich Enrique, während er seinen Inquisitoren den Aschenbecher brachte. „Er trinkt nicht, weil er nicht auf dem College war“, sagte Bernard und hielt das abgebrannte Streichholz in die Luft – eine traurige Freiheitsstatue, der es nicht gelungen war, Enrique mit ihrer Fackel den Weg an die Gestade der Bildung zu weisen. „Ah, ja!“, sagte Margaret und griff hinter sich in eine ihrer Jackentaschen, um ein Päckchen Camel Light herauszuziehen. „Bernard hat mir erzählt, du hast das College geschmissen, um zu schreiben.“ „Ich habe die Highschool geschmissen“, sagte er, das Trumpfass jetzt in der Hand, „um meinen ersten Roman zu schreiben.“ Er glitt mit seinen weißen Socken über die lackierten Eichendielen und bot Margaret den Glasaschenbecher dar – ein hagerer, langhaariger Vasall in schwarzer Jeans, der den rastlosen Wildlederstiefel der Prinzessin fragt: Gut genug? Gut genug? Gut genug? „Du hast die Highschool nicht abgeschlossen?“, fragte sie. „Ich habe nicht mal die zehnte Klasse abgeschlossen“, sagte er, jetzt schon weniger stolz, weil er sich nicht sicher war, ob diese Negativleistung sie beeindrucken würde. „Na ja, wenigstens bist du lange genug geblieben, um rauchen zu lernen“, bemerkte Margaret trocken, während sie ihre bestiefelten Füße auf den Boden schwang und sich vorbeugte, um seine gläserne Gabe anzunehmen, und dann – diese bodenlosen blauen Augen waren plötzlich ganz dicht vor seinen, fünfzehn Zentimeter vielleicht oder noch weniger, und in Enrique passierte etwas, als ob eine Gitarrensaite riss. Ein Ruck und ein Vibrieren in seinem Herzen, ein deutlicher Knall in seiner Brust. Er hatte die Highschool geschmissen und nie etwas über Anatomie gelernt, aber er wusste, das Herzkreislaufsystem hatte nicht so zu reagieren, als ob es Quell und Zentrum des Fühlens wäre. Und doch hätte er vor aller Welt schwören können – wobei er nicht davon ausging, dass er es je irgendjemandem gestehen würde –, dass Margaret sich gerade sein sprödes Herz geschnappt hatte.

© Klett-Cotta ©

Literaturangabe:

YGLESIAS, RAFAEL: „Glückliche Ehe“ Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 430 S., 22,90 €.


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