Von Björn Hayer
Schon immer faszinierte den Autor Viktor Glass das Reisen. Seien es seine Reiseführer oder eben sein letzter Roman über den mysteriösen Tod des Erfinders Rudolf Diesel, der im Jahre 1913 bei einer Überfahrt auf dem Ärmelkanal ertrunken ist – das Erkunden des Fremden gilt als ästhetischer Wegweiser seines Schaffens. Er wandelt auf geographischen und historischen Spuren und übt sich stets in präziser Recherche. Was aber an den Figuren, Ländern und Erzählungen fiktiv ist, bleibt dabei geheim.
Diesmal führt Viktor Glass’ Reise weniger in ein anderes Land als vielmehr in eine der scheinbar illustersten Epochen der europäischen Geistesgeschichte: die Weimarer Klassik. Am Hofe des Herzogs Karl August formen Luxus und Koketterie das historische Bild der Zeit und sind zum Antlitz eines verwegenen, an der Zeitenwende befindlichen Absolutismus geworden. Zwischen Jagd und bunten Kostümbällen inszeniert sich der Hof als volksferner Parallelkosmos. Wo der Herzog und sein Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe das wirtschaftlich angeschlagene Fürstentum Weimar zum „Musenhof“ und damit schöngeistigen Zentrum deutschsprachiger Kulturlandschaft erheben, widmet Glass sich vor allem dem überblendeten Zwielicht, das jenseits der höfischen Glanzszenerie zu finden war.
Was er ans Tageslicht bringt, erweist sich aus heutiger Sicht als eklatanter Kulturschock. Der wohl schlichte Titel seines neusten Romans „Goethes Hinrichtung“ ist ambigue und mag jeden eingefleischten Goetheliebhaber im Grunde seines Herzens zutiefst erschüttern: Zum einen verweist die Semantik auf die Möglichkeit einer Hinrichtung von Goethe selbst; zum anderen jedoch auf das unglaubliche Todesurteil, welches eigens auf den genialen Literaten und Staatmann zurückgeht. Wer bislang glaubte, in dem Weimarer Genie das Vorbild eines unangefochtenen Humanisten zu sehen, wird durch die Geschichte, die wahre Begebenheit, die Glass minuziös recherchierte und ästhetisch zum Ausdruck brachte, bitter desillusioniert.
Im Zentrum steht die ohnmächtige Dienstmagd Johanna Catharina Höhn, die durch die Vergewaltigung ihres Dienstherrn unverheiratet schwanger wird. Obwohl sie unverschuldet Teil dieser unerhörten Tat wird, scheint die Angst vor den juristischen Konsequenzen sie gänzlich zu lähmen. Indem sie das Kind zur Welt bringt und es anschließend im Schock erdolcht, begründet sie den moralischen Skandal ihrer Zeit. Denn obwohl die Wissenschaft und der menschliche Geist längst an der Schwelle zur Neuzeit sind, steht das noch karolingische Strafrecht als Sinnbild eines mittelalterlichen Relikts, das auf Kindsmord einzig den Tod vorsieht.
Der Konflikt beginnt dort, wo ein vormoderner Denker in Würden und Amt, nämlich Goethe, auf die Fänge einer überholten Abschreckungsmentalität trifft. Die Frage ist: Wird der neuzeitliche Fürst, der die Todesstrafe abschaffen möchte, hier auf Anraten seines wichtigsten Beraters Gnade walten lassen? Wird das zur verhängnisvollen Zerreißprobe für den Geheimkonsul Goethe? Passt er sich der Mehrheit der Berater an und sichert er sich somit die eigene Reputation? Oder gibt er seinem Gewissen den Vorrang? Wahrscheinlich fesselt den Leser die eigentliche Geschichte über die letzte Hinrichtung einer Kindsmörderin in Weimar nur bedingt. Es ist primär die Psychologie des erfahrenen Geistes Goethe, die das Interesse weckt.
Nicht die historischen Fakten allein erzeugen den Reiz. Eben das, was Glass zwischen den Zeilen über die denkbaren Reflexionen des Genies schreibt, erweist sich als Versuch, der Apotheose einer unnahbaren Künstlergestalt menschliche Züge zu verleihen. Indem der Autor Faktizität und Wahrscheinlichkeit, Wahrheit und Dichtung zu einer Einheit verbindet, formt er ein mögliches Geistespanorama eines großen Denkers. Der unbedingten Perfektion setzt er das Unzulängliche gegenüber und schafft dadurch Menschennähe. Er holt den Klassiker von seinem Podest und verleiht ihm Authentizität.
So wird Goethe, der mit höchster Akribie den Geschäften der alltäglichen Politik nachgeht, in dieser Angelegenheit grundsätzlicher Natur erstmals aus seinen festen Bahnen geworfen. Er sucht Ausreden, wenn es um seine Meinung zum Kindsmord geht, flüchtet in sein Gartenhaus, „braucht seine Zuflucht in das äußerliche Chaos, wenn er ein innerliches zu ordnen gedenkt“. Nachdem er sich dann doch politischen Zwängen unterordnet und das Todesurteil schließlich annimmt, ist der große Literat nur noch eine gebrochene Existenz.
Es ist ein Buch über das Dazwischensein, über politische Obligationen, Staatsräson und das Ersehnen einer verheißungsvollen Zeitenwende. „Überall warten die Menschen auf diese neue Zeit, andere verteufeln sie.“ Am Ende steht Goethe im Spagat zwischen den Widersprüchen seiner Epoche, zwischen Glanz und Abgrund, Neuzeit und Altertum, hilflos jenseits von Gut und Böse. Der historische Roman von Viktor Glass ist ambitioniert und vielleicht sogar wirkungsvoller als jedwede Biographie. Doch dies zugegebenermaßen nur bedingt, da der Stil kaum über das Dokumentarische hinausgeht. Scheint die Geschichte noch so dicht gehalten, scheitert der Autor gerade an der Literarisierung seines Sujets.
Die Gefühle, die inneren Erosionen sowohl bei Hanna als auch bei Goethe versinken im Schatten eines angedeuteten Zwielichts. Worin liegt noch die Phantasie, wenn die stumme Handlungsabfolge das sprachliche Wagnis innerer Konflikte zu oberflächlich umgeht? Die Fakten brauchen wir, keine Frage! Aber etwas mehr Mut zur Dichtung ist da schon gefragt.
Literaturangabe:
GLASS, VIKTOR: Goethes Hinrichtung. Roman. Rotbuch Verlag, Berlin 2009. 224 S., 19,90 €.
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