Von Nada Weigelt
BERLIN (BLK) - Es ist eine perfekte Inszenierung. Auf einem Hügel am Kleinen Wannsee in Berlin sitzen sich Heinrich von Kleist (34) und seine Gefährtin Henriette Vogel (31) auf den Knien gegenüber. Die krebskranke Frau lehnt sich zurück, faltet die Hände - und lässt sich von dem Dichter in die Brust schießen. Eine Minute vergeht. Dann richtet er die Pistole gegen sich, drückt ab und sinkt zu ihr nieder. „Nun, o Unendlichkeit, bist du ganz mein“, wird später auf dem Grabstein stehen.
Der Freitod des geheimnisumwitterten Dramatikers jährt sich am 21. November zum 200. Mal. Mit einem bereits am 4. März offiziell beginnenden Kleist-Jahr soll in Deutschland deshalb an einen der wichtigsten Klassiker der deutschen Literatur erinnert werden. Zu Lebzeiten verkannt, gilt Kleist mit seinem radikalen Werk heute als ein Vorreiter der Moderne. „Der zerbrochne Krug“ und „Das Käthchen von Heilbronn“ gehören zum festen Repertoire der Theater. Aber auch seine sperrigeren Stücke und Erzählungen wie „Die Marquise von O...“ und „Michael Kohlhaas“ zählen zur Weltliteratur.
„Kleists Protagonisten sind von deutscher Innerlichkeit und Grübelei frei, sie handeln und scheitern an der Realität, das macht seine Werke bis heute für Leser in aller Welt so attraktiv“, resümiert die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft in Berlin, die sich seit 50 Jahren um die Erschließung des Werks bemüht. Und wie seine Protagonisten, so scheitert auch Kleist letztlich an den Herausforderungen der Realität. In der Umbruchzeit der Napoleonischen Kriege jagt er vergebens Glück und Anerkennung nach - ein Gegenbild zum schon zu Lebzeiten so erfolgreichen Dichterfürsten Goethe.
Der Intendant des Maxim Gorki Theaters in Berlin, Armin Petras, der im Kleist-Jahr alle acht Dramen des Dichters auf die Bühne bringt, sieht den Autor als moderne gebrochene Figur. „Diese Art der zerstückelten Biografie, immer wieder etwas Neues anzufangen, daran zu scheitern und das Nächste zu probieren, das ist in der Tat etwas, das in unserer Zeit plötzlich wieder eine ganz neue Virulenz bekommt“, sagt der Theatermacher in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.
Als Sohn eines preußischen Offiziers vermutlich am 10. Oktober 1777 in Frankfurt an der Oder geboren, steht Kleist eigentlich eine glänzende Karriere bevor. Mit 14 tritt er, der Familientradition folgend, in die Armee ein. Doch der Militärdienst und ein Kriegseinsatz am Rhein stürzen ihn in die erste existenzielle Krise. „Sieben unwiederbringlich verlorene Jahre“, sagt er später und bittet um seinen Abschied aus dem Garderegiment - eine Ungeheuerlichkeit für einen preußischen Offizier.
Auf der verzweifelten Suche nach einem Lebensplan, nach seiner „innigsten Innigkeit“, wie er sagt, beginnen rastlose Jahre. Er fängt an zu studieren, reist in alle Welt, will einmal Forscher, ein andermal Bauer werden, aber nichts hat Bestand. Die Verlobung mit der drei Jahre jüngeren Generalstochter Wilhelmine von Zenge geht zwei Jahre später in die Brüche, sein Verhältnis zu Frauen ist seither schwierig. Die Lektüre von Kant mit dessen Zweifel an der objektiven Wahrheit zieht ihm vollends den Boden unter den Füßen weg. „Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr“, notiert er.
Die Ruhelosigkeit und Umtriebigkeit seines Lebens schlägt sich auch im Werk nieder, das von 1802 an entsteht. Kleist probiert von der Komödie bis zum Ritterspiel jedes Genre, jedes Thema aus. Gemein ist den Stücken die innere Zerrissenheit ihrer Figuren und der Hang zu sinnloser Gewalt. So tötet im Trauerspiel „Penthesilea“ die Königin der Amazonen nicht nur ihren Geliebten Achill, sie schlägt ihm auch noch „den Zahn in seine weiße Brust“, zu gut deutsch: verspeist ihn gemeinsam mit den Hunden.
Das antifranzösische Propagandastück „Die Hermannsschlacht“ ist eine bittere Parabel auf den von Kleist erhofften Partisanenkrieg gegen Napoleon. Und der gutmütige Rosshändler „Michael Kohlhaas“ verwandelt sich nur wegen des Streits um zwei Pferde in einen rücksichtslosen Mordbrenner. Selbst im Märchenspiel „Das Käthchen von Heilbronn“ bekommt die Titelheldin brutale Prügel von ihrem Geliebten, und „Die Marquise von O...“ wird von ihrem Bräutigam vergewaltigt.
„Er lebte in einem Zustand dauernder Radikalität“, schreibt der Frankfurter Publizist Peter Michalzik, dessen Kleist-Biografie Mitte Februar im Propyläen Verlag erscheint. Und in der „Zeit“ urteilte Ulrich Greiner: „Das Besondere an Kleists Genie ist die zur Sprache gewordene Gewalt.“ Tatsächlich sind seine Sätze vorwärtsdrängende, sich überschlagende Wortkaskaden, wie im Stakkato dahingehämmert. An den Bühnen seiner Zeit kommt Kleist nicht an. Auch die Uraufführung des „Zerbrochnen Krugs“ mit Goethes Hilfe am Hoftheater in Weimar gerät 1808 zum Flop. Kleist sei von einer „unheilbaren Krankheit“ ergriffen, stichelt der erfolgreiche Geheimrat im späteren Streit. Aber auch andere Projekte wie das Kunstjournal „Phöbus“ und die „Berliner Abendblätter“, die erste Tageszeitung Berlins, scheitern grandios.
Nach einem ersten Zusammenbruch 1803 gerät Kleist später immer mehr in die Krise. Er ist entnervt von persönlichen Enttäuschungen, Zensur und immer neuen Betteleien nach Geld. An seine Cousine und Vertraute Marie von Kleist schreibt er 1811: „Meine Seele ist so wund, daß mir, ich mögte fast sagen, wen ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe thut, das mir darauf schimmert.“ Selbst seine Familie mit sechs Geschwistern und Halbgeschwistern, die immer ein Halt war, nennt ihn ein „nichtsnütziges Glied der Gesellschaft“.
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In dieser Situation lernt Kleist die verheiratete Berlinerin Henriette Vogel kennen. An Gebärmutterkrebs erkrankt, ist sie trotz ihrer kleinen Tochter bereit, das mit ihm zu tun, was andere befragte Frauen zuvor abgelehnt hatten: den Freitod zu suchen. Am 21. November 1811 verbringt das Paar trotz bitterer Kälte noch einen heiteren Nachmittag am Wannsee - bis irgendwann die beiden Schüsse fallen.
Seiner Lieblings(halb)schwester Ulrike hinterlässt Kleist einen Brief. „... du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war.“