Von Frauke Kaberka
Sallys Bild von Alfred ist meist wenig schmeichelhaft. Gnadenlos nimmt sie seine inneren und äußeren Schwächen wahr. Manchmal liebt sie ihn, manchmal nicht. Manchmal hasst sie ihn. Ganz besonders dann, wenn er sich über sein schmerzendes Bein einen Stützstrumpf zieht. Der wird allmählich zu einem Symbol für den alternden Ehemann selbst, einen allzu weichen, nicht besonders attraktiven, behäbigen und unternehmungsscheuen Alfred. Sally hingegen - mit 52 nur fünf Jahre jünger als er - trotzt der Zeit, dem Älterwerden. Und weiß dabei genau, dass sie bei all ihrer Agilität, ihrem mühsam konservierten hübschen Erscheinungsbild, ihrem Sex-Hunger nichts anderes als eine Frau in den mittleren Jahren ist, die versucht, mehr aus dem Leben, das sie einmal gewählt hat, herauszuholen.
„Alles über Sally“ nennt der Österreicher Arno Geiger seinen neuen Roman. Obwohl auch Alfred einen Platz im Titel verdient hätte. Dem preisgekrönten Autor („Es geht uns gut“) ist ein grandioses Porträt des Ehepaares gelungen. Dabei spielt sich hauptsächlich Alltägliches ab, mit einigen Rückblicken auf 30 Jahre Gemeinsamkeit. Auf große richtungsändernde Ereignisse hat Geiger gänzlich verzichtet. Dazu gehört Mut, vor allem aber Können.
Der Roman beginnt im Urlaub. Es ist noch früh am Tag. Alfred liegt auf dem Bett - natürlich mit Kompressionsstrumpf – und schreibt in seinem Tagebuch. Eine Angewohnheit seit seinem 18. Lebensjahr. Akribisch notiert er Gedanken zu Ereignissen, Büchern, Gesprächen - manchmal tiefschürfend, manchmal federleicht und oberflächlich. Geiger lässt nur ein einziges Mal den Leser einen Blick in die Tagebücher werfen, im Kapitel 10. Ein ganzes Kapitel - fast bis zur Unerträglichkeit in einem einzigen Satz geschrieben, 42 Seiten ohne Absatz.
Doch nun sind Alfred und seine Frau im Urlaub. Sally ist nicht besonders gut drauf und mosert rum, weil er wieder den Strumpf angezogen hat: „Mein Bedarf an körperlichem Verfall ist für den Rest der Ferien gedeckt.“ Alfred empört: „Man fühlt sich wie ein Invalide.“ Und Sally: „Ich fühl' mich wie neben einem Invaliden.“ -
„Wäre das ein Problem?“ – „Nicht, wenn du tatsächlich invalid wärst.“
So was schreibt Alfred auf. Und dann auch etwas Beunruhigendes: Zu Hause ist eingebrochen worden. Es zeigt sich, dass er damit nicht klarkommt, zumal die Truhe mit seinen in fast 40 Jahren geschriebenen Tagebüchern zertrümmert wurde und viele seiner Aufzeichnungen verunstaltet sind. Er zieht sich noch mehr zurück und leidet sichtbar, was Sally auf die Nerven geht. Sie rettet sich in Aktionismus, streicht die beschmierten Zimmer, räumt auf, wäscht, macht alles neu. Und beginnt ein Verhältnis mit Erik.
Die Konstellation ist natürlich nicht neu, und sie führt auch nicht in eine Tragödie - wie es vielleicht vor einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten noch wahrscheinlich gewesen wäre. Fremdgehen als so ziemlich das Normalste, was in einer Ehe passieren kann? Mag sein oder auch nicht. Hier ist es jedenfalls Mittel zum Zweck, das Alltägliche in allem Elend, aber auch in seinem Glanz zu zeigen.
„Was ist denn unser Alltag unter seiner banalen Oberfläche?“, fragt Geiger selbst und antwortet auch gleich: „Er ist ein mühsam verwaltetes Chaos von außerordentlicher Schönheit, und das ist wahrhaftig zum Staunen!“
Staunen, wenn nicht Bewunderung, löst das realitätsnahe Eheszenarium Geigers unbedingt aus. Er findet die Balance zwischen Leere, Eintönigkeit, täglichem Trott und den Glücksmomenten, den großen und kleinen täglichen Freuden, den konservierten guten Erinnerungen und der reaktivierten Freude am Sexualleben. Der Autor schafft es, dem Leser nicht nur den soften Alfred in all seiner liebenswerten Unzulänglichkeit nahe zu bringen, sondern sich auch als Frauenversteher zu geben - und als einer, der die versteckten Sehnsüchte beider Geschlechter kennt. Das Projekt Ehealltag hätte auch schief gehen können. Tut es aber nicht. Ganz und gar nicht.
Literaturangabe:
GEIGER, ARNO: Alles über Sally. Hanser Verlag, München 2010. 363 S., 21,50 €.
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