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Das Grauen der Nachkriegszeit

György Sebestyéns Roman „Thennberg oder der Versuch einer Heimkehr“

© Die Berliner Literaturkritik, 21.07.10
György Sebestyén © Archiv Anna Sebestyén

György Sebestyén © Archiv Anna Sebestyén

Von Jennifer Riehn

Als Kind kam Richard Kranz mit seiner Familie nach Thennberg, einem kleinen beschaulichen Dorf in Österreich, um Ferien zu machen. Als Erwachsener kehrt er 1945 als Überlebender aus dem Konzentrationslager in den einstigen Ferienort seiner Familie zurück. Doch das idyllische Bild des altösterreichischen Ortes hat längst an Farbe verloren – ein ungelöster Kriminalfall und die Geschichte von Liebe und Tod entspinnen sich in einem diffusen „Wechsel von Zeiten und Blickwinkeln, Traumsequenzen und Wirklichkeit“.

Das Buch beginnt, als sich Richard Kranz nach der Befreiung des Konzentrationslagers durch die Rote Armee auf den Weg nach Thennberg macht, dem Ort, in dem er seine Kinder- und Jugendjahre verbracht hat. Dort trifft er nach den schrecklichen Erlebnissen aus fünf Jahren im Konzentrationslager einige Personen wieder, die er noch aus früheren Jahren kennt. Er begegnet der Tochter seiner früheren, längst verstorbenen Geliebten. Diese lebt seit dem Tod ihrer Mutter in einer inzestuösen Beziehung mit ihrem Stiefvater. Richard Kranz beginnt mit ihr eine Liebschaft, kurz darauf stirbt sie und es entwirrt sich das Geflecht einer, an vielen Stellen moralisch verwerflichen Geschichte.

Mithilfe derer stellt der Autor in gewissenhaften Sätzen und genauen Bildern eine wahrlich „dunkle Zeit“ „facettenreich“ dar. Dabei fällt auf, dass nicht die Figuren in den Mittelpunkt der Geschichte rücken – diese charakterlich tief zu durchzeichnen unterlässt der Autor gänzlich – vielmehr ist es das Bild einer Gesellschaft, in der sich „Gewalt, Oberflächlichkeit, Unwahrheit, Selbsttäuschung und Unrecht“ ausgedehnt haben, das György Sebestyén zum Thema seines Romans macht. Moral und Ethik spielen in ihr, zur Zeit des Schreckenregimes der Nationalsozialisten keine Rolle, moralische Maßstäbe gibt es nicht mehr. So heißt es im Roman: „(…) im Wald konnte einem alles Mögliche passieren. Im Wald war die Leiche des Gastwirts Stranzl gelegen, (...) er war ausgeraubt worden und zusammengeschlagen und dann erdrosselt, im Wald war ein toter Mann gelegen, den niemand kannte, er war erschlagen worden mit einer Axt, im Wald war erst vor drei Tagen die närrische Gretl Vieböck gelegen, diese Idiotin, vergewaltigt, erschossen, im Wald streunten Männer herum, Kazetler auf dem Heimweg, Fremdarbeiter, russisches Militär, Nazis auf der Flucht, Soldaten in Uniform (...), im Wald wurde wahllos gemordet, da zählte es nicht mehr, ob irgendwo im Gestrüpp noch eine vierte Leiche lag oder eine fünfte.“

In György Sebestyén Roman wird der Wald, vielmehr das altösterreichische Idyll des fiktiven Thennbergs Sinnbild für eine Gesellschaft, die müde geworden ist durch den er- und durchlebten Schrecken eines totalitären „Führerstaates“.

Wehrmutstropfen des Romans: Etwas zu verwirrend ist der Wechsel von „Erinnerungen und Gegenwart, Rauschfantasien und Fieberträumen“. Viel zu sehr ist man als Leser damit beschäftigt ein Mosaik aus Namen und wahren oder erdachten Gegebenheiten zusammen zu setzen, als dass man das Stoffliche des Romans leicht erfassen und genießen könnte.

Als wahrer Schatz und dienlich erweist sich dabei das Nachwort des nur 164 Seiten starken Buches von Helmuth A. Niederle, der mit fachkundigen Anmerkungen ein erhellendes Licht auf den Roman von György Sebestyéns wirft. Als Kenner des Autors greift er Einzelheiten und Aspekte des Romans auf und hilft, sie mit seiner Sichtweise zu beleuchten – damit gibt er eine Art Interpretationshilfe, die es durchaus lohnt, nachträglich zu lesen.

György Sebestyén wurde 1930 in Budapest geboren. Der mit vielen Preisen ausgezeichnete, zweisprachige Schriftsteller studierte Philosophie, Soziologie, Literatur und Ethnographie. Daneben war er ab 1948 als Dramaturg, Theater- und Literaturrezensent tätig. 1956 flüchtete er nach aktiver Beteiligung am Ungarn-Aufstand nach Wien, wo er bis zu seinem Tod als freier Schriftsteller, Übersetzer und Journalist lebte. 1988 wurde er zum Präsidenten des P.E.N.-Clubs gewählt.

Literaturangabe:

SEBESTYEN, GYÖRGY: Thennberg. Oder der Versuch einer Heimkehr. Braumüller Literaturverlag, Wien 2010. 164 S., 19,90 €.

Weblink:

Braumüller Literaturverlag


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