Von Matthias Hoenig
Ein großer Schriftsteller gestaltet seinen literarischen Abschied. Literaturnobelpreisträger Günter Grass, am 16. Oktober wird er 83, hat seinen autobiografischen Zyklus mit einem dritten, sprachgewaltigen Werk vollendet. Nach dem - nicht nur literarischen - Paukenschlag „Beim Häuten der Zwiebel“ (2006) über Jugend, Kriegs- und Nachkriegszeit bis 1959 sein Welterfolg „Die Blechtrommel“ erscheint, folgte „Die Box (2008), eine märchenhaft verschlüsselte Hommage an die eigene Familie. Jetzt also „Grimms Wörter“.
Diese „Liebeserklärung“, wie der Untertitel heißt, ist der deutschen Sprache gewidmet, seiner eigentlichen Heimat. Ein Leben lang hat sie Grass Geborgenheit und Sicherheit, literarische Ausdruckskraft und gesellschaftspolitischen Einfluss gegeben. Grass beweist sich als begnadeter Wortfinder, Lautmaler, Silbenstecher, der den Leser, aber fast mehr noch den Hörer der zeitgleich erschienenen, vom Autor selbst gesprochenen Hörbuchausgabe in den Bann zieht.
Die Konzeption des Buches ist anspruchsvoll gewirkt, manche werden die Verknüpfung literarischer Passagen mit politischen Sichtweisen als Gratwanderung empfinden. Grass erzählt das Leben der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert, die seit 1838 an einem großen Wörterbuch der deutschen Sprache arbeiteten - und findet immer wieder politische Parallelen zu seinem eigenen Leben: Einen gebrochenen Eid, geschmäht zu werden von politischen Gegnern, Opportunismus allerzeiten und allerorten.
Die Zeitläufe der deutschen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert werden dabei immer wieder reflektiert, die NS-Zeit ebenso wie die beiden deutschen Staaten nach dem Krieg bis zur Wiedervereinigung. „Mir schien, dass der Teil meiner Autobiografie, der in "Beim Häuten der Zwiebel" und "Die Box" nicht vorkommt, meine politische und gesellschaftliche Tätigkeit, in einer Geschichte über die Grimms Platz haben könnte“, sagte Grass in einem Interview des Schweizer Magazins „Du“ (Juli/August-Ausgabe).
Und so arbeitet sich Grass auf mehreren Ebenen ab, die immer wieder nach seinem bewährten Schreibstil der „Vergegenkunft“ - also der Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart uns Zukunft - ineinandergreifen.
Er erzählt die Geschichte von Jacob und Wilhelm Grimm, die zu den sieben Göttinger Professoren gehörten, die eine „Protestation“ gegen das Aushebeln der einigermaßen fortschrittlichen hannoverschen Verfassung durch Fürst Ernst August veröffentlichten - weil sie ihren eigenen Eid auf diese Fassung als gebrochen ansahen und dies nicht hinnehmen wollten.
Grass selber erinnert sich beim Wort Eid an sein Gelöbnis bei der Waffen-SS. „Das Kriegsende befreite mich von dem beschworenen blinden Gehorsam, ohne daß ich sogleich sehend wurde und begriff, welches Ausmaß an Verbrechen ein Eid, gesprochen in einer Frostnacht, bemänteln kann. Nie wieder würde ich einen Eid sprechen.“
Jacob Grimm wurde wegen seines Protestes ausgewiesen, er „exilierte ins hessische Kassel, auf der Kutschfahrt begleitet von Studenten und Unterstützern. Bald sollte Wilhelm folgen - und der Auftrag zum Wörterbuch ihnen ein Auskommen sichern. Erst 1960 - nach dem Zweiten Weltkrieg gab es trotz deutscher Teilung Arbeitsstellen im damaligen Ostberlin und in Göttingen, die zusammenarbeiteten - wurde das dann 32-bändige Werk fertig, die Brüder Grimm hatten selber nur die ersten Bände geschafft.
Grass erzählt auch Schlüssel-Erlebnisse seines politischen Engagements: Den Wandel vom politisch verführbaren Jugendlichen in der NS-Zeit zum Demokraten, seine Kritik an der Adenauer-Ära, seinen jahrzehntelangen Einsatz für die SPD, seinen Kampf für verfolgte Autoren in der DDR wie Erich Loest oder seine Proteste gegen die Irakkriege.
Neun Kapitel umfasst das Werk, die ersten sechs sind angeordnet nach den ersten Buchstaben des Alphabets von A bis F. Die letzten drei Kapitel lauten „Vom Friedhof zu endlosen Kriegen“, „Ungezählte Kuckucksrufe“ und „Am Ziel“. Als Philologe im Wortsinn, als Freund des Wortes und der Sprache, schreibt sich Grass aus, setzt sich auseinander mit Wortableitungen und neuen Wortschöpfungen. Er zitiert mittelalterliche und Barockautoren ebenso wie Luther oder den Kirchenliedschreiber Paul Gerhardt, immer wieder aber die Brüder Grimm und deren Zeitgenossen Achim von Arnim oder Clemens und Bettine von Brentano.
Im Schlusskapitel „Am Ziel rudert Grass imaginär gemeinsam mit den Brüdern Grimm auf dem Neuen See und jubelt über den Abschluss der 32- bändigen Ausgabe. „Nichts ist fertig“, „Nichts wird fertig“, antworten Jacob und Wilhelm und machen so den nie enden wollenden Schöpfungsprozess von Sprache und Wörtern deutlich. Besonders berührend ist eine Passage, in der Grass an die vielgerühmte und vom Steidl Verlag neu herausgebrachte Rede Jacob Grimms über das Alter erinnert und sich selber unter die Zuhörer mischt.
Über den Tod schreibt Günter Grass: „Jetzt aber steht er mir bevor. Nach ihm wird nichts sein (...). Die geplante August-Bebel- Stiftung will auf den Weg gebracht, das wahrscheinlich letzte Buch für den Druck fertig werden, auch lasse ich ungern von meiner Frau, den Töchtern, Söhnen, den Enkeln, dem konfusen Zeitgeschehen, meinem Vergnügen, dem Achterbahnfahren und den Fußballergebnissen am Wochenende. Doch da mir, umringt von mehr und mehr Ungewißheiten, einzig der Tod gewiß ist, will ich ihn, wie Jacob es tat, als ungeladenen, aber unumgänglichen Gast empfangen und allenfalls mit der Bitte belästigen: mach es kurz und schmerzlos. Noch fremdelt er, wird aber vertrauter mit jeder schlafarmen Nacht. Ich weiß, auf ihn ist Verlaß.“
Literaturangabe:
GRASS, GÜNTER: Grimms Wörter - Eine Liebeserklärung. Steidl Verlag, Göttingen 2010, 368 S., 29,80 €.
Weblink: