MÜNCHEN (BLK) – Der Roman „Das Narrenschiff“ von Katherine Anne Porter ist im September 2010 im Manesse Verlag in einer Neuausgabe erschienen. Er wurde von Susanne Rademacher aus dem Amerikanischen übersetzt. Das Nachwort hat Elke Schmitter verfasst.
Klappentext: August 1931: Im Hafen von Veracruz tummelt sich eine bunt zusammengewürfelte Reisegesellschaft, um sich nach Bremerhaven einzuschiffen. Deutsche, Schweizer, ein Schwede, drei Amerikaner, eine Handvoll Mexikaner und Spanier – die unterschiedlichsten Menschen, die unterschiedlichsten Schicksale, doch alsbald zeigt sich, dass niemand ernsthaft am anderen interessiert ist. Das einzige, worin man sich einig zu sein scheint, sind Egoismus und Ignoranz. Und so beginnt, kaum dass der Anker gelichtet ist, das große Taxieren, Ausgrenzen, Abkanzeln. Moralische Vorurteile werden ebenso laut wie soziale oder rassische. Vor allem am Kapitänstisch, wo man sich unter seinesgleichen wähnt, nimmt man kein Blatt vor den Mund. Distinguierte Damen erweisen sich als skrupellose Intrigantinnen, graumelierte Herren als zynische Menschenverächter, die bei deutschem «Schaumwein» völkische Ressentiments zum Besten geben. Und als in Havanna Hunderte spanischer Plantagenarbeiter ins Zwischendeck der «Vera» gepfercht werden, fühlt man sich erst richtig als Mensch erster Klasse und darf je nach Gemütslage die Nase rümpfen oder sich gerührt die Augen tupfen.
Katherine Anne Porter (1890–1980) wuchs als Halbwaise auf und war somit schon früh auf sich gestellt. Nach einer gescheiterten Ehe be begann sie ihre Karriere als Journalistin in Chicago und schrieb ihre ersten Erzählungen in Mexiko. Porter lebte als freie Journalistin und Autorin in New York, Mexiko, Boston, Kalifornien, auf den Bermudas und in Paris; sie unternahm zeitlebens ausgedehnte Reisen. Bereits 1941 begann sie mit der Niederschrift von „Ship of Fools“ (Das Narrenschiff). Den Roman beendete sie dann 1961. Er begründete den Weltruhm der amerikanischen Schriftstellerin. 1966 erhielt sie für ihre Stories den Pulitzer-Preis. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in Texas.
Leseprobe:
©Manesse Verlag©
I
Einschiffung
„Quand partons-nous
vers le bonheur?“
Baudelaire
August 1931. – Für Reisende ist die Hafenstadt Veracruz ein kleines Fegefeuer zwischen Land und Meer, ihre Bewohner aber sind sehr stolz auf sich und ihre Stadt, die zum Teil ihr Werk ist. Ihr Dasein wird von den örtlichen Sitten und Gebräuchen bestimmt, die ihre Geschichte und Wesensart widerspiegeln, und in der angenehmen Vorstellung, ihre Gewohnheiten und Gefühle wären über jede Kritik erhaben, führen sie ihr abwechselnd gewalttätiges und lethargisches Leben in einer erfreulichen Verachtung für die Meinung Außenstehender.
Wenn sie eines ihrer zahlreichen privaten und öffentlichen Feste gefeiert haben, veröffentlichen die Zeitungen lyrische Ergüsse über den fröhlichen Verlauf, über die Üppigkeit und aristokratische Vornehmheit – zwei Ausdrücke, die sie für Synonyme halten – der Dekoration und Bewirtung; und sie können nicht genug rühmen, wie gewandt und feinfühlig die gute Gesellschaft zwischen feinster Lebensart und zwanglosem Amüsement zu balancieren verstehe – ein Geheimnis der Welt von Veracruz, das die provinzielle Gesellschaft des Hinterlands mit bitterem Neid und überdies erfolglos nachzuahmen sucht. «Nur unsere Bevölkerung versteht sich frei und doch zivilisiert zu amüsieren», schreiben sie und fahren fort: «Wir sind ein großzügiger und warmherziger, ein gastfreier und feinfühliger Menschenschlag.» Solche Auslassungen sind nicht nur für die Leser in der eigenen Stadt bestimmt, sondern auch für die polyglotten Barbaren2 der Hochebene, die allen Gegenbeweisen zum Trotz Veracruz nur als ein verpestetes Hafennest betrachten.
Vielleicht ist in dieser streitbaren Betonung feiner Lebensart ein klein wenig Unsicherheit zu spüren, genau wie in der systematisch brutalen Behandlung, die für gewöhnlich den Passagieren zuteil wird, die auf dem Weg zu der vorübergehenden Geborgenheit eines im Hafen wartenden Schiffs durch die Hände der Veracruzanos gehen müssen. Die Durchreisenden haben keinen anderen Wunsch, als dieser Stadt den Rücken zu kehren, und die Leute von Veracruz wünschen sich nichts sehnlicher, als sie wieder los zu sein – aber erst, nachdem sie alle erdenklichen Zölle, Gebühren, Erpressungs- und Bestechungsgelder aus ihnen herausgequetscht haben, die der Stadt und ihren Bürgern zustehen. In den Augen des Durchreisenden ist Veracruz wirklich eine typische Hafenstadt, zynisch von Natur und schamlos durch Erfahrung, die sich den Fremden hemmungslos von ihrer schäbigsten Seite zeigt; neun von zehn dieser Passagiere sind Schafe, die danach blöken, geschoren zu werden, und der zehnte ist ein Schurke, und es wäre ewig schade, ihn nicht zu begaunern. Jedenfalls muss man zusehen, aus jedem so viel Geld wie möglich herauszuholen, und die Zeit dafür ist immer knapp.
In der weißglühenden Hitze eines frühen Augustmorgens schlenderten einige friedliche Bürger in weißen Leinenanzügen im staubigen Schatten der nachtduftenden Goldkelchsträucher über den hartgedörrten Boden der Plaza und ließen sich auf der Terrasse des „Palacio“-Hotels nieder. Sie streckten die Beine, um ihre Schuhsohlen abzukühlen, begrüßten den schmuddeligen kleinen Kellner mit Namen und bestellten eisgekühlte Limonade. Sie alle waren seit Generationen zusammen aufgewachsen und hatten gegenseitig ihre Kusinen, Schwestern oder Tanten geheiratet; jeder wusste über die Geschäfte jedes anderen Bescheid, jeder erzählte jedem anderen jeden Klatsch, der ihm zu Ohren kam, und ließ sich das Erzählte geduldig wiedererzählen, ja, man leistete einander bei der Geburt solcher Geschichtchen mit der intimen Sachkenntnis einer Hebamme Hilfestellung. Und doch trafen sie sich hier fast allmorgendlich auf dem Weg in ihre Läden oder Büros zu einer letzten Rast vor dem Ernst der Tagesarbeit, um über die neuesten Ereignisse auf dem Laufenden zu bleiben.
Der Platz war menschenleer bis auf einen ausgemergelten kleinen Indio, der unter einem Baum auf einer Bank saß, einen Bauern in vergilbten weißen Baumwollunterhosen, langem Hemd und mit einem breitkrempigen alten Strohhut, den er über die Augen gezogen hatte. Seine Füße mit den brüchigen Zehennägeln und rissigen Fersen, in Sandalen mit vielfach zerrissenen und wieder verknoteten Lederriemen, lagen artig nebeneinander auf dem grauen Erdboden. Er saß aufrecht mit verschränkten Armen da und schien zu schlafen. Mit einer trägen Bewegung schob er seinen Hut zurück, zog aus seinem geflochtenen blauen Baumwollgürtel ein Päckchen kalte Tortillas und begann zu essen; er blickte um sich oder starrte in die Ferne, während er entschlossen die breiten Zähne in das zähe Backwerk grub und es ohne Genuss kaute und schluckte. Die müßigen Männer auf der Terrasse nahmen ihn nur als Bestandteil der Szenerie wahr, und er schien sie gar nicht zu bemerken.
Der Bettler, der sich jeden Tag pünktlich mit den ersten Gästen auf der Terrasse einstellte, kam, die Stümpfe seiner vier Gliedmaßen in lederne Kappen eingebunden, halb watschelnd, halb kriechend um die Ecke. Er war, als Vorbereitung auf seinen Beruf, in früher Jugend von einem Meister seines Faches so raffiniert verstümmelt und deformiert worden, dass er kaum noch einem menschlichen Wesen ähnelte. Stumm und halb blind kam er näher, die Nase fast am Boden, als folgte er einer Fährte; hin und wieder machte er eine Ruhepause und wiegte langsam seinen hässlichen zottigen Kopf in unerträglichem Leid. Die Männer am Tisch blickten flüchtig zu ihm hin wie auf einen Hund, der selbst für einen Fußtritt zu abstoßend ist, und er wartete neben jedem einzelnen geduldig auf das Klirren der kleinen Kupfermünzen, die in den klaffenden Lederbeutel an seinem Hals geworfen wurden. Wenn einer der Männer ihm eine ausgepresste Limonenhälfte hinhielt, setzte er sich auf die Schenkel zurück und ließ sich die Frucht in den aufgesperrten grässlichen Mund stecken, um dann mit malmenden Kiefern wieder vornüber zu fallen. Endlich kroch er über die Straße zur Plaza und legte sich unter die Bäume hinter dem kleinen Indio, der den Kopf nicht nach ihm wandte.
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Literaturangabe:
PORTER, KATHERINE ANNE: Das Narrenschiff. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Susanna Rademacher. Manesse Verlag, München 2010. 204 S., 26,95 €.
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