BLK (BERLIN) - Vor 85 Jahren erschien „Der große Gatsby“, einer der wichtigsten Romane der amerikanischen Literatur. Heute scheint F. Scott Fitzgeralds Geschichte über den Amerikanischen Traum und den Glamour des Jazz-Age zeitgemäßer denn je. Martin Ernst sprach mit dem Literaturkritiker und Pulitzerpreisträger Henry Allen über die Aktualität und Faszination des Romans.
Martin Ernst: Mr. Allen, eine einfache und doch wichtige Frage zum Anfang: Was fasziniert Sie an diesem Buch?
Henry Allen: Das Buch vereint Schönheit und Schrecken, zeigt beide Seiten des amerikanischen Traums. Als ich 16 war, eröffnete es mir die Welt und vor allem Amerika. Nun, mit 68, zeigt es mir vor allem eine nationale Besonderheit. Eine, die Wolkenkratzer gebaut und uns zugleich in große Schwierigkeiten gebracht hat. Früher dachten wir immer, dass unsere Kinder besser leben werden als wir. Heute ist das nicht mehr unbedingt der Fall.
Der Roman beschreibt eine Gesellschaft, die glaubt, für immer in Reichtum und Wohlstand leben zu können - kann eine solche Geschichte denn aktueller sein als heute?
Nein, natürlich nicht. Es gibt eine verblüffende Entsprechung zwischen der Zeit des Romans, den 1920ern vor dem Crash von 1929 und dem Zustand vor der Wirtschaftskrise. In Amerika war das Konsumzeitalter angebrochen. Es gab Soziologen und Philosophen, die die Menschen buchstäblich zum Kaufen drängten. Im Rückblick erscheint es wie das Kleinkindalter dieses Landes, mit dem wir zusammen aufgewachsen sind und in dem wir heute immer noch leben. Der Glaube an unendliche Möglichkeiten, den auch Gatsby repräsentiert, gehört zu den zentralen Aussagen des Romans. Das ist zum Einen eine schöne und noble Sache. Andererseits ist Gatsby ein Krimineller, auch wenn man nie genau erfährt, wie er zu seinem Reichtum gekommen ist. Zudem hat er ein teilweise groteskes Verhältnis zur Realität, glaubt zum Beispiel das Rad der Zeit zurückdrehen und Daisy, seine Geliebte, erneut gewinnen zu können. Diese Bereitschaft zur Möglichkeit und die Blindheit für die Grenzen der Realität ist wohl genau das, was uns und auch die ganze Welt in diese Umstände gebracht hat.
Was können Amerikaner und auch europäische Leser von diesem Buch lernen?
Als Kultur sind auch wir ein Subjekt, das an das glaubt, was Fitzgerald beschreibt. Ich bin mir nicht sicher, ob „Der große Gatsby“ in Kanada viel Sinn machen würde. Kanadier benehmen sich anders und wir sind, wer wir sind. Texaner kommen nach Kanada und finden immer noch Öl dort – weil sie die Möglichkeit suchen und nutzen. Amerikaner nehmen gerne all ihr Geld und setzen es auf ein Pferd, weil sie daran glauben. Dieser Glaube ist in unserer Kultur verankert. Insofern wirkt der Roman auch wie ein Spiegel, der uns zeigt, wer wir sind. Er zeigt wichtige Aspekte der amerikanische Volksseele: den Pioniergeist und die Sehnsucht, die das weite Land erobert haben oder den Wunsch nach Aufstieg. Gleichzeitig aber auch die Einsicht, dass die Mittel, die man dazu anwendet, unweigerlich einen verderblichen Einfluss ausüben.
Wie jeder gute Roman ist auch „Der große Gatsby“ ein vielschichtiges Werk. Ist der Roman denn eher als Kritik am Kapitalismus zu verstehen oder als eine Verherrlichung?
Ich glaube nicht, dass Fitzgerald auch nur die leiseste Ahnung von Kapitalismus nach unserem heutigen Verständnis hatte. Heute meinen wir damit oft eine kritisch-marxistische Perspektive. Aber eine marxistische Analyse würde bei diesem Roman keinen Sinn machen. Was er wahrnahm, war eine Verhaltensweise, eine soziale Wahrnehmung, die darauf achtet, wie viel Geld jemand hat. Fitzgerald stand Reichtum in vielerlei Hinsicht distanziert gegenüber. Die Buchanans zum Beispiel werden als reiches aber gleichgültiges Paar gezeichnet - ihre Indifferenz wird im Laufe des Romans moralisch verwerflich. Fitzgerald hat so gut wie nie Menschen der Unterschicht beschrieben ...
Aber im Roman gibt es die Wilsons, einen Tankstellenwärter und seine Frau ...
Stimmt. Auch sie werden in ihrem Verhältnis zu Geld und Reichtum gezeigt. Myrtle Wilson verkörpert den typischen Aufstiegswillen aus der Unterschicht. Sie ist die Geliebte des Millionärs Tom Buchanan und sucht durch ihn den Kontakt zur Oberschicht, benimmt sich wie eine von dort, lässt sich von ihrem reichen Liebhaber beschenken. Und ihr Mann ist ein Beispiel des Arbeiters, der an den Aufstieg glaubt, es aber nicht schafft.
Was ist heute noch von dem Buch in der amerikanischen Alltagskultur vorhanden?
Oft nicht viel mehr als der Name. Und nicht gar so viele Amerikaner sind mit dem Namen vertraut wie mit Huckleberry Finn oder Tom Sawyer. Menschen, die deren Namen kennen, wissen meist sogar, worum es sich im Buch handelt. Wohingegen Menschen, die den Namen „Der große Gatsby“ kennen, nicht wirklich eine Ahnung haben, worum es geht. Dieses Buch ist mehr ein geistiges Gut der intellektuellen Klasse. Andererseits ist da der Glamourfaktor. Aufgrund des Films mit Robert Redford assoziieren viele Menschen den Namen „Gatsby“ mit dem modischen Stil und der Eleganz des Jazz-Age.
Gatsby vereint Persönlichkeit und Geld, dies ist die Formel für seinen Erfolg. Wer aus unserer heutigen Zeit könnte eine Gatsby-Figur abgeben?
Donald Trump hat es versucht, aber er ist meiner Meinung nach zu vulgär. Auch Bill Gates wäre so eine Figur, aber er ist zu sehr an Technik interessiert und primär auch an Geld. Das ist Gatsby nicht unbedingt, für ihn ist Geld nur Mittel zum Zweck, um Daisy zu erobern. Außerdem fehlt Gates eindeutig der Glamourfaktor.
Was ist mit Roman Abramovich?
Ich dachte eher an Chodorowski, der nun wohl für immer im Gefängnis bleiben wird. Die Russen haben die Chance des wirtschaftlichen Aufschwungs genutzt und nun gibt es diese teils grotesken Millionäre mit Model-Freundinnen. Ich denke aber nicht, dass Amerikaner das sehr Gatsby-like finden.
Aber auch der Autor F. Scott Fitzgerald hatte diesen Glamourfaktor. Er kannte schon sehr früh das Spiel mit den Medien ...
Ja, und in seiner Glamourösität war er manchmal auch vulgär und verdreht – zum Beispiel als er mit seiner Frau Zelda im Brunnen des New Yorker Plaza Hotels tanzte. Durch seinen ersten Roman „Diesseits vom Paradies“ war er eine glamouröse und öffentliche Figur geworden. Ein Historiker hat mal erklärt, dass das 19. Jahrhundert eine Zeit des Charakters war und das 20. Jahrhundert die Zeit der Persönlichkeit. Fitzgerald ist genau während dieses Übergangs aufgewachsen. Charakter hat mehr mit Tugenden wie Ehre und harter Arbeit zu tun, Präsident Roosevelt war jemand mit Charakter. Persönlichkeit hingegen ist Magnetismus, Attraktivität und Überzeugung. Fitzgerald verkörperte das aufkommende Zeitalter der Persönlichkeit. Im „Gatsby“ beschreibt er Persönlichkeit ja sehr treffend als eine ungebrochene Serie erfolgreicher Gesten. Das hat heute wohl auch noch Gültigkeit.
Abschließend, in einem Artikel zu Fitzgerald haben Sie in Bezug auf „Gatsby“ eine interessante Anekdote über Realität und Fiktion geschildert.
Vor ein paar Jahren half ich einem Freund, eine Jacht nach North Shore, Long Island zu bringen, auf der anderen Seite von Great Neck, wo Fitzgerald eine Weile lebte und wo „Der große Gatsby“ spielt. Als wir mit dem Taxi nach New York zurückfuhren, sprachen mein Freund und ich über Gatsby. „Oh ja, Gatsby“, sagte der Taxifahrer plötzlich. Er lebte in der Nähe von Great Neck. „Ri-i-i-iesen Partys. Eine Menge Leute hier erinnern sich noch an ihn. Nicht ich, das war vor meiner Zeit, aber ein Onkel von mir arbeitete als Kellner auf diesen Feten.“ Eine verblüffende Geschichte. Fitzgerald ist wie Elvis oder John Kennedy - wir bevorzugen es, seinen Tod und seine Fehler zu ignorieren und den Charme der unendlichen Möglichkeiten am Leben zu erhalten, den er hervorgebracht hat.
Mr. Allen, wir danken für das Gespräch!
Die Erstpublikation des Interviews erfolgte bei „Cicero Online“.
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