Werbung

Werbung

Werbung

Günter Grass von Stasi bespitzelt

„Günter Grass im Visier – Die Stasi-Akte“ ist in Zusammenarbeit mit Grass entstanden

© Die Berliner Literaturkritik, 04.03.10

BERLIN (BLK) - Die umfangreichen Stasi-Aufzeichnungen über Günter Grass erscheinen knapp 20 Jahre nach der Wiedervereinigung jetzt in einer fesselnd zu lesenden Dokumentation. Seit seinem Protest gegen den Mauerbau 1961 bis ins Wendejahr 1989 wurde der Schriftsteller lange als eine Art Staatsfeind betrachtet - und bei seinen DDR- Besuchen auf Schritt und Tritt überwacht. Am 12. März kommt die mit einordnenden historischen Zusammenfassungen und Kommentaren von Grass und anderen Zeitzeugen angereicherte Dokumentation der Stasi-Berichte in die Läden. „Mein Ziel war ein spannendes Geschichts-Lesebuch und keine wissenschaftliche Edition“, sagt der Verfasser, der Journalist Kai Schlüter.

Einen Tag nach dem Mauerbau, am 14. August 1961, bezieht Grass erstmals öffentlich Position. In einem flammenden Protestbrief an Anna Seghers bezeichnet er den SED-Chef Walter Ulbricht als KZ- Kommandanten. Die Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes antwortet nicht. Am 16. August legen Grass und sein Kollege Wolfdietrich Schnurre in einem Offenen Brief an die Mitglieder des
DDR-Schriftstellerverbandes nach: „Stacheldraht, Maschinenpistole und Panzer sind nicht die Mittel, den Bürgern Ihres Staates die Zustände in der DDR erträglich zu machen. Nur ein Staat, der der Zustimmung seiner Bürger nicht mehr sicher ist, versucht sich auf diese Weise zu retten.“

Zum Eklat kommt es am 25. Mai 1961, als der Gastredner Grass beim Schriftstellerverband in Ostberlin fordert: „Geben Sie den Schriftstellern die Freiheit des Wortes!“

Spätestens jetzt ist klar: Grass ist zwar ein Gegner der seiner Meinung nach restaurativen Adenauerregierung im Westen, aber der Sozialdemokrat lässt sich nicht für das SED-Regime vereinnahmen. „Über all die Jahrzehnte hat Grass konsequent kritisch zur DDR gestanden, er hat sich nicht angepasst oder angebiedert, sondern
ostdeutschen Kollegen immer wieder geholfen - und er hat die Idee der Einheit der deutschen Kulturnation vertreten, auch wenn es politisch zwei Teilstaaten gab“, resümiert Verleger und Lektor Christoph Links.

Die Stasi versucht, wie die Akten zeigen, Einfluss auf Grass zu nehmen, seinen Einfluss oder die öffentliche Aufmerksamkeit für ihn einzudämmen, aber auch über ihn als unbewussten Lockvogel neue Einblicke in die DDR-Dissidentenszene zu gewinnen. „Ich bin überrascht gewesen über die Dichte der Überwachung ­ alle offiziellen Gesprächspartner von Grass in der DDR waren Zuträger der Stasi“, sagt Schlüter, der beim Nordwestradio, einem Hörfunkprogramm von Radio Bremen und dem NDR, arbeitet. Für die Stasi arbeiteten demnach Grass' ostdeutsche Verleger von Volk und Welt und Reclam Leipzig ebenso wie der Präsident des Schriftstellerverbandes Hermann Kant oder der Präsident der Akademie der Künste, der Regisseur Manfred Wekwerth.

Neben den Mauerprotesten ärgert die DDR-Führung besonders das Theaterstück „Die Plebejer proben den Aufstand“. Wie aus den Akten hervorgeht, versucht die Stasi mit allen Mitteln, die im Januar 1966 am West-Berliner Schiller-Theater geplante Uraufführung des Stücks über den DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und das Versagen Bertolt Brechts zu verhindern ­ vergebens. „Für die DDR negativ wirkt sich
die Stellung des Schriftstellers GRASS aus“, wird in einem Stasi- Bericht vom 14. Mai 1965 der GI (Geheimer Informator, ab 1968 Bezeichnung IM) „Manfred“ alias Manfred Wekwerth zitiert.

In den Jahren 1974 bis 1978 kommt es zu bis heute kaum bekannten deutsch-deutschen Schriftstellerlesungen in Ostdeutschland, die Einladungen wurden nur mündlich ausgesprochen, man traf sich in privaten Wohnungen. Erst 1976 soll die Stasi darüber von einem Spitzel erfahren haben. Nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann und den folgenden Protesten werden viele kritische DDR-
Autoren in den Westen abgeschoben. Grass versucht 1980 mit jungen DDR-Autoren einen Neuanfang, was die Stasi aber unterbindet.

Die Unsicherheit der DDR-Führung zeigt sich in einem 1980 erlassenen Einreiseverbot, das aber aus übergeordneten politischen Gründen nicht eingehalten wird: „Grass inspiriert feindlich-negative Kräfte in der DDR zu Aktivitäten gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung“, heißt es in dem Stasi-Erlass. Erst 1984 erscheint in der DDR als erstes Grass-Werk „Das Treffen in Telgte“, 1987 ­ als Öffentlichkeits-Coup zum 60. Geburtstag des Autors ­ der Welterfolg „Die Blechtrommel“. Lesereisen folgen 1987 und 1988, die Stasi ist immer dabei ­ auch bei den Besuchen von Grass im Sommer
1989 auf Rügen und Hiddensee, der Heimat seiner Frau Ute. In der Akte des auf Grass angesetzten Spitzels IM „Schäfer“ alias Karlheinz Schädlich - Bruder des Autors Hans Joachim Schädlich - findet sichdie Schlussnotiz des Führungsoffiziers: „Abbruch der Verbindung wegen Perspektivlosigkeit.“

In der Aufbereitung aus Zeugenberichten und Kommentaren aus heutiger Sicht zu den in den Stasi-Akten genannten Vorgängen ergibt sich ein facettenreiches, packendes Geschichtsbuch, das bisher wenig bekannte Kapitel der deutsch-deutschen Literaturkontakte aus unterschiedlichen Perspektiven und daher sehr glaubwürdig vermittelt. Christoph Links, der nach dem Mauerfall als erster in der DDR einen
Verlag im Dezember 1989 gründete und spezialisiert ist auf deutsch- deutsche Themen, hat den Band lektoriert, wobei ein Abkürzungsverzeichnis und Glossar dem Leser sehr helfen, den Überblick über Stasi-Kürzel und ostdeutsche Autoren zu behalten.

Der Band konnte nur in Zusammenarbeit mit Grass entstehen, der seine Stasi-Akten dazu freigab ­ die Grass-Akte umfasst rund 700 Blatt, zählt man andere Akten dazu, taucht der Name Grass oder seine Fahndungsnummer auf über 2300 Seiten auf, wie Schlüter berichtet. Grass sei es darum gegangen, „dass die Lesart der Stasi nicht die
einzige bleibt“. Denn viele Berichte sind interessengesteuert und aus Quellen zweiter und dritter Hand zusammengeschrieben. Die oft spröde- bürokratische Sprache der Stasi-Berichte hat bei Schlüter einen unerwarteten Prozess ausgelöst: „Wenn man Tag um Tag diese Akten liest, gewinnt der Wahnsinn Realität.“ Erschüttert hat ihn das
„System des totalen Misstrauens“. So habe beispielsweise ein Informant 200 Mark als Dank erhalten und der Führungsoffizier als Maßnahme sofort danach angeordnet, den IM abzuhören. „Keiner traute niemanden.“ (dpa/wer/kör)


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: