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„Haben wir uns alle überlebt?“

Die Raddatz-Tagebücher 1982-2001

© Die Berliner Literaturkritik, 30.09.10

Von Wilfried Mommert

Die eigenen Tagebücher noch zu Lebzeiten zu veröffentlichen, ist nicht ohne Risiko. Der Publizist und Literaturkritiker Fritz J. Raddatz ist es im Alter von 79 Jahren eingegangen. Seine Entlassung als langjähriger Ressortchef der Wochenzeitung „Die Zeit“ nennt er seinen „beruflichen Herzinfarkt“, „hinausgeworfen wie ein Hund“. Er arbeitet dann aber noch lange Jahre als Autor für das Blatt weiter.

  Manche sprechen von den „heroischen Jahren des deutschen Feuilletons“, die es im Internet-Zeitalter so nicht mehr geben könne, und demzufolge nennen manche seine Tagebücher auch einen «großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik». Immerhin war Raddatz lange Jahre einer der einflussreichsten Literaturkritiker der Republik.

  Seine Tagebücher aber sind vor allem ein großer Klatsch- und Tratschroman, denn «am Ende liebt man sich nur selber». Dieses resignierende Fazit des 1990 gestorbenen DDR-Dramatikers Georg Seidel könnte auch als Motto für diese Tagebücher von 1982 bis 2001 des Ende der 50er Jahre aus der DDR in den Westen gegangenen Publizisten Fritz J. Raddatz stehen. Sie sind jetzt bei Rowohlt erschienen, wo Raddatz auch einmal stellvertretender Verlagschef war.

  Raddatz ist auch Autor mehrerer Romane und Biografien. Die Tagebücher aus zwei Jahrzehnten sind vor allem eine Fundgrube für Insider der Kulturszene und Medienbranche. Weniger „eingeweihte“ Leser könnten sie bisweilen eher abschrecken, weil es immer wieder um Intrigen, Bösartigkeiten, Sticheleien und Selbstüberschätzungen in allen möglichen Spielarten geht.

  Gleichwohl sind die Tagebücher durchaus eine faktenreiche und oft auch spannend zu lesende Gesellschaftsgeschichte der intellektuellen Kreise der Bundesrepublik jener Jahre. Der Kulturjournalist leidet aber ganz offensichtlich darunter, „nur als Journalist“, also Reproduzent und kaum als eigenständiger Autor angesehen zu werden.

Alle Namen, Partys und Klatschgeschichten hat er detailliert festgehalten. Manches ist amüsant, anderes will man eigentlich gar nicht wissen, das trifft auch auf erotische Eskapaden des bisexuellen Autors zu. Daneben stehen brutale Selbstreflexionen: „Beruflich fliege ich raus, publizistisch werde ich ermordet, erotisch abgewiesen.“

  Eine Galerie der Bösartigkeiten sind allein seine Charakterisierungen der prominenten Weggefährten. Der Schriftsteller Botho Strauß ist bei ihm eine „eisenharte Mimose“ und ein überschätztes „Sensibelchen“, Altkanzler Helmut Schmidt pflege „grässliches Oberlehrergequatsche“, beim Philosophen Ernst Bloch sieht er viel „Bla-bla-Seifenblasen“, der frühere DDR-Autor Hermann Kant ist nach Bekanntwerden der Stasi-Verbindungen für Raddatz „das kleine Ferkel“. Walter Kempowski ist „ein Dorf-Thomas-Mann“, Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld ein „Kotzbrocken“.

  Die Tagebücher sind neben diesen eher an die Regenbogenpresse erinnernden Passagen aber auch ein bewegendes Dokument eines einsamen Menschen, den der ganze „Prominenten-Trubel“ auch in seiner „Fluchtburg“ in Kampen auf Sylt nicht wirklich glücklich machen kann. Verbittert stellt er fest „nirgendwo hinzuzugehören“, von „niemanden getragen“ zu werden.

  Ein zentrales Lamento gilt immer wieder der seiner Meinung nach großen Undankbarkeit seiner Umgebung ihm gegenüber - das geht bis hin zur Aufzählung seiner Meinung nach entweder kleinlichen oder gar ausbleibenden Geburtstagsgeschenke.

  Gleichzeitig kreidet Raddatz manchen prominenten Literaten, auch Grass, immer wieder eine Sucht nach Anerkennung an. Selbstkritisch sieht er aber auch Neid bei sich selbst: „Mich wählt ja niemand in eine Akademie, mir hat auch noch nie irgendjemand einen Preis zuerkannt.“ Und er notiert: „Man weint ja auch immer um sich selber.“

  Raddatz fragt sich vor seiner Bibliothek stehend manchmal auch: „Wozu ein Meter Lessing, zwei Meter Brecht, drei Meter Thomas Mann?“ Aber er ist auch stolz darauf, „alles im Leben aus eigener Kraft erreicht“ zu haben. Im August 1986 notiert Raddatz auf Sylt: „Wie viele Leben kann man leben?...Haben wir uns alle überlebt?“

 Fritz J. Raddatz: Tagebücher 1982-2001, Rowohlt Verlag, Reinbek, 940 S., 34,95 €.


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