Hans-Gert Braun: Armut überwinden durch Soziale Marktwirtschaft und Mittlere Technologie. Ein Strategieentwurf für Entwicklungsländer. LIT Verlag, Berlin-Münster-Wien-Zürich-London 2011. 304 Seiten.
Von Rainer Barthelt
Professor Hans-Gert Braun war viele Jahrzehnte im Bereich der Wirtschaftlichen Zusammenarbeit tätig. Es kann nicht wundern, dass er dabei auf manche Unzulänglichkeiten der nicht nur von der Bundesregierung geleisteten Entwicklungshilfe stieß, vor allem durch das 1962 wiederbelebte Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das nach 1949 unter diesem Namen zur Entgegennahme der Deutschland geleisteten Marshallplanhilfe gegründet worden war. Im Teil 1 seines Buches „Armut überwinden durch Soziale Marktwirtschaft und Mittlere Technologie“ informiert Braun zunächst über wesentliche Grundlagen des Themas: Was ist „wirtschaftliche Armut“, wie ist sie verteilt ? Was ist zu tun, damit eine Steigerung des Volkseinkommens durch den „trickle down“-Effekt auch bei den Armen ankommt?
Das führt den Leser zu den Fragen, welche Produktionsfaktoren und -funktionen und welche Kapital- und Humankapitalintensitäten kombiniert mit welcher Technologie am wirksamsten dazu beitragen können. DieAntwort: „Mittlere Technologie“, die deutlich kapitalintensiver als die in traditionellen Sektoren verwandte, aber weniger kapitalintensiv als die moderne Technik ist.
Es werden die Argumente für und gegen ihren Einsatz vermittelt. Wie wirkungsvoll ihr Einsatz bei Vorrang der Beschäftigung ist, wird am Erfolgsmodel Singapur dargestellt. Dies führt zur Darstellung der staatlichen Kernaufgaben bei der Armutsüberwindung. Das Gegenteil einer funktionierenden Verwaltung wird in vielen korrupten Staatsapparaten Schwarzafrikas verzeichnet. Unter welchen Bedingungen auch in Entwicklungsländern eine soziale Marktwirtschaft funktioniert und wie diese zur Umsetzung der vorgeschlagenen Strategie maßgeblich beiträgt, erhellen detaillierte Begründungen.
Dies führt im Teil 2 des Buches zur Nationalen Entwicklungspolitik. Die Rolle der Infrastruktur einschließlich infrastruktureller Großvorhaben, wie der Errichtung der Stadt Chandigarh am Fuße des Himalaya, wird als weiteres Erfolgsmodell vorgestellt. Als Beispiel verfehlter Technologiepolitik wird die Agrarpolitik der meisten Entwicklungsländer beschrieben. Dann wird der Technologiepolitik als Schlüssel für Reformen breiter Raum gewidmet und der Verfasser schlägt zur Lösung der Problematik die Etablierung eines Nationalen Instituts für Mittlere Technologie vor. Es hätte die Aufgabe den Zentralstaat, die Provinzregierung, Städte und Kommunen bei ihrer Technologiewahl zu beraten, zum Beispiel bei der technischen Ausstattung von Beschäftigungsprogrammen.
Dem häufig unterschätzten Finanzsektor wird ebenfalls große Aufmerksamkeit gewidmet. Am Fallbeispiel Ugandas wird eingehend dargestellt, wie das Agrarland 1987 wegen seiner Verschuldung auf Veranlassung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ein Strukturanpassungsprogramm begann. 1994 waren seine Güter-, Dienstleistungs-, Finanz- und Devisenmärkte weitgehend liberalisiert. Was noch zu geschehen hatte, um einen funktionierenden Finanzsektor herzustellen, wird eingehend geschildert. Dann wendet Braun sich in seinem Buch der Mobilisierung von Geldkapital zu. Dabei kommt den Heimatüberweisungen der etwa 200 Millionen Menschen aus Entwicklungsländern, die außerhalb ihrer Heimatländer leben, eine gravierende Bedeutung zu. Nach Schätzungen der Weltbank wurden 2006 etwa 200 Milliarden US-Dollar über formelle und informelle Wege in Entwicklungsländer transferiert, was weit mehr als die offizielle Entwicklungshilfe ist. Eigentlich bestünde gar kein Bedarf an Finanzhilfe (FZ) aus Geberländern. Die internationale Entwicklungshilfe müsste sich vielmehr darauf konzentrieren, den Entwicklungsländern zu helfen, ihr vorhandenes Geldkapital für die Finanzierung der Armutsbekämpfung verfügbar zu machen.
Teil 3 des Buches ist der internationalen Entwicklungszusammenarbeit gewidmet. Es beginnt mit dem „Mythos Marshallplan“. In dessen Rahmen stellten die USA in den Jahren 1848 bis 1952 zum heutigen Gegenwert etwa 100 Millionen US-Dollar für den Wiederaufbau Westeuropas zur Verfügung. Dies zwar als Zuschuss, aber nicht in Form von Geld, sondern als Warenhilfe. Sollte der Marshallplan als Vorbild für Entwicklungshilfe gelten, wäre aber zu beachten, dass der Wiederaufbau eines kriegsgeschädigten Industrielandes etwas völlig anderes ist als die „Entwicklung“ eines Entwicklungslandes. Im Einzelnen werden in Teil 3 alle Einzelheiten und ausgewählten Merkmale deutscher Entwicklungshilfe und deren Kritik abgehandelt. So habe das Antragsprinzip zu einem fatalen Wettbewerb der Geber geführt, mit der Folge, dass die Geber vom jeweiligen Nehmerland gegeneinander ausgespielt werden. Sachgerechte, härtere Konditionen werden vom Nehmerland mit dem Hinweis günstigerer Konditionen eines anderen Gebers vereitelt. Kritisiert werden auch die Konzentration auf den öffentlichen Sektor sowie die nur über die Zentralregierung gewährte Entwicklungshilfe.
Weitere kritische Anmerkungen sowohl zur finanziellen als auch zur technischen Hilfe führen Braun schließlich über die Rolle ausländischer Direktinvestitionen und ihrer Förderung durch die DEG, deren Direktor und Chefvolkswirt Braun über 20 Jahre lang war, zum Konzept einer neuen Entwicklungszusammenarbeit (EZ) - zu ihrer Totalreform: Die Überwindung der Armut kann die EZ nur bei Vorrang der Beschäftigung erreichen. Ihre Konzentration auf den Zentralstaat ist zu beenden. Mit guter Regierungsführung sollen die Nehmerländer untereinander um EZ konkurrieren. Zur Hilfe vor der Hilfe zählen u. a. die Eindämmung von Kapital- und Steuerflucht, die Verhinderung von aufwändigem Staatskonsum, von Waffenexporten, krimineller Rohstoffausbeutung, die Öffnung der Märkte der Industrieländer. Im Politikdialog ist mit den Entwicklungsländern ein grundlegendes Verständnis bezüglich der nationalen beschäftigungsorientierten Armutsbekämpfungsstrategie der EZ herbeizuführen und deren Einhaltung als unabdingbare Voraussetzung für eine Aufnahme und Fortführung von EZ zu vereinbaren.
Es konnten hier nur einige der interessanten Argumente Brauns aufgegriffen werden. Die empfehlenswerte Lektüre seines Buches bietet sehr viel mehr. Es sei weniger ein wissenschaftliches, sondern ein politisches Buch, sagt sein Verfasser einleitend. Es zielt auf grundlegende Veränderungen sowohl in der nationalen Politik der Entwicklungsländer als auch in der Politik der Entwicklungszusammenarbeit. Auch in Entwicklungsländern sind Geldwertstabilität, Wettbewerb, Preisfreiheit, Konsumentensouveränität, Gewerbefreiheit und Eigentumsrechte die konstituierenden Element einer Sozialen Marktwirtschaft, die eine ebenso wichtige Grundlagen zur Armutsüberwindung ist wie die „Technologiepolitik“, deren Darstellung einen Kern des Buches bildet.