Hans Magnus Enzensberger steht für Lyrik der intelligenten Art. Seine Gedichte sind unpathetisch und nachdenklich im Ton, variantenreich und ohne Hang zum Kreuzreim in der Form. Das gilt umso mehr für seinen ausgesprochen gelungenen jüngsten Gedichtband „Rebus“, der gerade bei Suhrkamp erschienen ist.
Enzensberger wird am 11. November 80 Jahre alt. „Rebus“ ist also ein Spätwerk, aber eines, das „reif“ zu nennen, ganz falsche Assoziationen wecken würde.
Seine Lyrik ist alles andere als in die Jahre gekommen. Das Spiel mit der Sprache beherrscht er wie eh und je. Manche Verse werden ganz ohne Absicht zum Aphorismus, wie bei der Frage, warum Bilder einen Rahmen haben: „Weil sie das, was sie abbilden, gar nicht fassen können.“ Im selben Gedicht über die Jahreszeiten beweist Enzensberger, wie genau er beobachten kann: Der Sommer ist da, das Rieseln des Sandes zwischen den Zehen, verdutzte Kühe, krächzende Staumeldungen, das Aroma des Schattens unter der Palme. Beim Lesen läuft im Kopf ein Film ab, der den Dichter auf dem Weg in den Urlaub zeigt.
Andererseits reflektiert Enzensberger in Versform auf einem Niveau, das mancher Essay nicht erreicht: über das System, das an allem schuld sein soll zum Beispiel. Aber Enzensberger ist kein Intellektueller, der Gedichte nutzt, um auf bequeme Weise seine Gedanken loszuwerden. Er ist auch ein Sprachspieler voller ungewöhnlicher, manchmal skurriler Ideen. Der Spaß, den seine Lyrik macht, beruht auf solchen unerwarteten Pointen: Da kann ein Dichter seine eigenen Texte nicht mehr lesen und sucht nach seiner Brille, „sucht und sucht, doch stattdessen findet er einen Hirschkäfer (eine bedrohte Art) in der Schublade“. Im nächsten Vers preist ein Vertreter im Altersheim Schachuhren an, hat im Musterkoffer aber auch „Gebisse in allen Tönungen, von Schneeweiß bis Buttergelb“.
Dass Enzensberger auch ein Gedicht über die Arbeit von Archäologen geschrieben hat, ist gar nicht so verwunderlich. Sie graben in Tiefenschichten und suchen nach Spuren der Vergangenheit. Das macht der Autor auch. Gerade das Kapitel „Schwere Koffer“ ist voller solcher Expeditionen in die Vergangenheit. „Schwere Koffer“ ist auch der Titel eines Gedichts: Sie stehen im Hinterhof, zerfleddert, mit Schnüren zusammengehalten. Wer sie öffnet, kann darin nach den Zeiten stöbern, in denen ihr Leder geglänzt hat.
Oft erinnert sich Enzensberger an die eigene Kindheit: an die Bunker, in denen er nach der Schule Versteck gespielt hat, die verrottete Munition im Sand, die toten Zünder, den „blechernen Napf eines Arbeitssklaven“. Als der Zweite Weltkrieg begann, war der Autor neun Jahre alt. Sein Blick zurück wird nicht durch Nostalgie getrübt: „Nach Bratäpfeln hat es manchmal gerochen, da wo ich herkomme. Sonst gab es wenig zu essen. Und doch bin ich groß und stark geworden.“ Ein Glück, nicht nur für Enzensberger selbst: Die deutsche Literatur verdankt ihm eine Reihe gelungener Gedichte. „Rebus“ legt in dieser Hinsicht noch einmal nach.
Von Andreas Heimann
Literaturangaben:
ENZENSBERGER, HANS MAGNUS: Rebus. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009. 120 S., 19,80 €.
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