Von Julian Mieth
Das sei gleich am Anfang verraten: „1Q84“ ist ein echter Haruki Murakami - verstörend, absurd, genial. Umso ärgerlicher ist es für die Fans des japanischen Schriftstellers, dass er auch in diesem Jahr nicht den Literaturnobelpreis erhalten hat. Längst habe er ihn verdient, so seine Verehrer. Immerhin können sich die deutschen Leser freuen. Die ersten beiden Bände der als Trilogie angelegten Geschichte sind nun als mehr als 1000 Seiten starkes Buch erschienen. In Japan waren Teil eins und zwei des Monumentalromans „1Q84“ schon 2009 auf dem Markt - und binnen kurzer Zeit ausverkauft.
Es ist das Jahr 1984 in Japan. Die hübsche Aomame steigt mitten im Tokioter Berufsverkehr aus einem Taxi, weil sie einen wichtigen Termin nicht verpassen will. Um von der Stadtautobahn zu kommen, nimmt sie eine Rettungstreppe - und gelangt, ohne es zunächst zu merken, in eine Parallelwelt. Erst auf den zweiten Blick nimmt sie kleine Veränderungen wahr. Die Polizisten tragen andere Uniformen, es gab einen Zwischenfall mit einer Sekte, von dem sie bislang noch nichts gehört hatte. Gerade rechtzeitig schafft sie es zu ihrem Termin. In einem Hotel tötet sie einen Mann mit einem winzigen Nadelstich. Plötzlich hängen am Himmel zwei Monde.
Hobbyschriftsteller Tengo erlebt ähnlich Sonderbares, als er den Auftrag annimmt, das verstörende Romandebüt „Die Puppe aus Luft“ der 17-jährigen Fukaeri zu lektorieren. Darin tauchen nicht nur die geisterhaften Wesen „Little People“ auf, sondern auch eine religiöse Sekte mit erschreckend brutalen Riten. Als das Buch ein Riesenerfolg wird, scheint die Geschichte plötzlich Wirklichkeit zu werden.
Intelligent verwebt Murakami die sich in Kapiteln abwechselnden Handlungsstränge zu einer Geschichte. Bald wird klar, dass sich seine Helden schon als Schüler kannten und seitdem nicht vergessen haben. Nicht nur deswegen sind Aomame und Tengo typische Murakami-Helden. Sie sind klug, begabt, attraktiv - und beziehungsgestört. Für Murakami ist dies eine wichtige Voraussetzung. Erst ganz von der Gesellschaft isoliert entfalten seine Protagonisten ihre mysteriöse Anziehungskraft.
Allerdings erzählt Murakami nicht nur eine Liebesgeschichte. Vielmehr webt er geschickt schwer verdaubare Themen wie Selbstjustiz oder den sexuellen Missbrauch Minderjähriger in die Geschichte ein. Offenbar hat die mysteriöse Bestseller-Autorin dies in der Sekte selbst durchlitten. Mit Religion und Fanatismus beschäftigte sich Murakami schon in seinem Sachbuch „Untergrundkrieg“, in dem er den Giftgasanschlag der Aum-Sekte auf die Tokioter U-Bahn beleuchtet.
Zitate und Anspielungen finden sich bei Murakami regelmäßig. So erinnert das Jahr seiner Parallelwelt 1Q84 nicht zufällig an George Orwells „1984“: Der englische Buchstabe „Q“ klingt im Japanischen wie die Zahl „9“. Steuert in Orwells düsterem Zukunftsroman noch der geheimnisvolle „Big Brother“ die Geschicke der Menschen, so sind es bei Murakami die „Little People“.
Auch sonst spart der Japaner nicht mit Verweisen, die seine weltweit Millionen zählende Fangemeinde begierig aufnimmt. Fast möchte man Murakami geschickte Schleichwerbung unterstellen: In Japan wurde Leo Janaceks im Buch beschriebene „Sinfonietta“ kurzerhand zum Kassenschlager, das gleiche gilt für Tschechows „Die Insel Sachalin“.
Die Roman-Zutaten sind nicht neu: detaillierte, scheinbar belanglose Beschreibungen von Musik, Literatur und Essenszubereitungen verbinden fantastische Erzählstränge, die es so wohl nur bei Murakami gibt. Parallelwelten, Killerfrauen, Geisterwesen schildert er so unaufgeregt, als wäre all das Realität.
Tausend Seiten weiter haben sich Aomame und Tengo immer noch nicht gefunden, aber allerlei Bizarres erlebt. Am Ende des Buches steht Aomame wie zu Beginn auf der lauten Stadtautobahn. Begriffen hat man bis dahin wenig, statt Antworten bleiben Fragen. Wollte man Murakami etwas vorwerfen, dann hätte er in dieser erzählerischen Klammer manche Episode kürzen können. Was sein Held Tengo im Buch beim Lektorieren der „Puppe aus Luft“ macht, hätte auch „1Q84“ nicht geschadet.
„Ich werde Aomame finden“, sagt Tengo auf der letzten Seite. Gut zu wissen, dass der dritte Teil von „1Q84“ auf Deutsch im nächsten Herbst folgen soll. Bis dahin bleiben die vielen Rätsel ungelöst.
[1Q84](http://www.1q84.de/)
Literaturangabe:
Haruki Murakami: 1Q84. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Dumont, Köln 2010, 1024 Seiten , 32 Euro