Werbung

Werbung

Werbung

Heiko Otto: „Beim Leben meiner Enkel.“

Geflohen aus der DDR - und zurück über den Zaun

© Die Berliner Literaturkritik, 27.06.11

OTTO, HEIKO: Beim Leben Meiner Enkel. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011. 219 S., 20,00 €.

Von Ulrike John

Einmal über Grenzzäune und Minenfelder - und zurück. Die Geschichte des Jürgen Resch gehört eigentlich längst ins Museum und in die Lehrbücher. Erst jetzt hat sie jemand mit allen Details und Facetten aufgeschrieben. Der 26-jährige Kraftfahrer flieht am 3. März 1984 zusammen mit seinem Bruder Roberto und dessen Kumpel Pieter aus der DDR in die Bundesrepublik. Genau drei Monate später kehrt er auf dem selben wahnwitzigen Weg zurück. Aus Liebe. Er landet in Isolationshaft. Verraten von der eigenen Ehefrau?

Da gibt es - wie so oft - nicht nur die eine Wahrheit. Auf ihrer Spurensuche hat Autorin Heike Otto einige Mauern einreißen müssen. Ihr Buch „Beim Leben meiner Enkel” ist ein Stück Zeitgeschichte, das so viel über den Stasi-Staat, aber auch über die Menschen in seinen Fängen aussagt: Die drei Geflohenen, ihre Ehefrauen, Jürgen Reschs Sohn und seine Eltern zeichnen verschiedene Versionen der dramatischen Ereignisse. Die Akten und Dokumente der Stasi ergänzen das Bild, das sich der Leser selbst machen muss.

Annett Spörer ist seit 1993 Sachbearbeiterin bei der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) in Suhl. Der Umfang der Akten, die sie gelesen habe, sei so groß, dass sie sich nur selten im Detail an einen bestimmten Vorgang erinnern könne. „Den Fall der Familie Resch aber werde ich nie vergessen”, sagt sie.

Unterstützen Sie dieses Literaturmagazin: Kaufen Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen - es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro versandkostenfrei! Vielen Dank!

Als die drei Männer bei tiefem Schnee in weißer Unterwäsche über den Klamotten fliehen, mit einem Holzgerüst den Grenzsignalzaun überwinden, sind die Frauen eingeweiht. Offiziell wissen sie natürlich von nichts und hoffen, dass sie im Zuge einer Familienzusammenführung irgendwann ausreisen dürfen - und landen in der U-Haft. Verdacht auf Fluchthilfe. „Das war die absolute Hölle”, sagt Robertos Frau Susanne. 15 Monate Knast bekommen die drei, zwei von ihnen haben Kinder. Kerstin Resch, Jürgens Frau, darf am Tag der Verkündung nach Hause. Ihr Urteil wurde in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Es gibt Gerüchte, sie habe ihren Ausreiseantrag zurückgezogen und die Scheidung eingereicht.

„Kerstin will nicht mehr in den Westen und lebt in einer neuen Beziehung”, schreiben die Eltern an Jürgen Resch, der im Westen schier durchdreht. Am 3. Juni 1984 überklettert er in einem Bundeswehr-Tarnanzug in der Nähe von Tettau wieder den drei Meter hohen Metallgitterzaun, wirft einen acht Kilo schweren Stein und springt genau dorthin, wo das Ding gelandet ist. Wegen der Minen. Auf der anderen Seite des gefährlichen Grenzsignalzauns, lässt er sich auf den Boden fallen. „Es ist mein Sprung zurück in die DDR.”

Jürgen Resch schleicht sich ins eigene Haus in Steinach. „Du bist nicht mehr ganz dicht” - so schildert seine Frau Kerstin ihre erste Reaktion. Sein Plan ist, sofort nach Berlin in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik zu fahren. Aber sie geht erst einmal arbeiten, damit nichts auffällt. Und er wird von Soldaten aus einem Spalt hinter dem Bett gezerrt, wo er sich versteckt hat, und abgeführt in Handschellen. Eineinhalb Jahre sitzt Jürgen Resch als politischer Häftling, die Stasi treibt ihn fast zum Selbstmord.

„Warum hat sie den Jürgen verraten?”, fragen sich seine Eltern. Die Stasi-Unterlagen aber offenbaren nicht, mit welchen Mitteln Kerstin Resch unter Druck gesetzt worden sein könnte. „Ich bin wegen David hiergeblieben! Und als mein Mann zurückgekommen ist, habe ich ihn nicht verraten”, sagt sie später. „Ich schwöre beim Leben meiner Enkel: Ich habe ihn nicht verraten!”

Die Mauer fällt am 9. November 1989. Über 20 Jahre danach sind viele Steinbrocken in den Familien der damaligen DDR-Flüchtlinge weggeräumt. Aber manche sind einfach zu schwer dafür.

Weblink: Hoffmann und Campe Verlag


Bookmark and Share

BLK mit Google durchsuchen: