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Hellsichtig bis zur Schmerzgrenze

Paolo Giordanos „Die Einsamkeit der Primzahlen“

© Die Berliner Literaturkritik, 02.12.09

Von Tina Rath

2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31 … Schon in der Antike haben sie die Menschen fasziniert: Primzahlen. Für den jungen Mathematiker Mattia bekommen sie allerdings eine besondere Bedeutung, eine, die über den Bereich der Mathematik hinausgeht: „Mattia hatte gelernt, dass es Paare von Primzahlen gab, zwischen denen immer eine gerade Zahl stand, die verhinderte, dass sie sich berührten. In Mattias Augen waren sie beide, Alice und er, genau dies: Primzahlen, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um einander wirklich zu berühren.“ „Primzahlzwillinge“ werden diese Zahlen genannt, deren Eigenschaften immer noch nicht restlos erforscht sind.
Mattia sieht seine Umwelt mit den Augen des Wissenschaftlers. Er kann kein Landschaftspanorama anschauen, ohne auszurechnen, wie weit der Horizont entfernt ist. Das beruhigt ihn, wenn er nicht versteht, was die Anderen von ihm wollen. Was oft vorkommt.

Früher hatte er einmal eine richtige Zwillingsschwester, Michela. Sie glichen sich fast bis aufs Haar, aber während Mattia schon in der Grundschule Klassenbester war, lernte Michela niemals das Sprechen. Michela war geistig behindert, was sie beide zu Außenseitern machte.

Sie sind schon in der dritten Klasse – Mattia lernt das Dividieren mit Übertrag, Michela malt mit zweifelhaftem Erfolg Malbücher aus – da werden die Zwillinge eines Tages zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Zum ersten Mal. Die Mutter, überglücklich, kleidet die beiden neu ein und kauft ein teures Geschenk. Aber Mattia kommen Zweifel. Wird Michele ihn nicht wieder blamieren, wie immer? Zum ersten Mal in seinem Leben spürt er so etwas wie Hass auf seine Schwester. Was gäbe er darum, wenn er allein zu dieser Geburtstagsfeier gehen könnte … und so lässt er Michela in einem Park zurück, um ein paar Stunden lang ein ganz normaler Junge zu sein. Es werden, wenn nicht die ersten, so ganz sicher (erst einmal) die letzten normalen Stunden seines Lebens. Von Gewissensbissen geplagt, verlässt er die Feier frühzeitig, geht zurück in den Park, der nun winterlich-dunkel ist. Aber Michela ist nicht mehr da. An einem Flussufer findet Mattia eine Glasscherbe, die er sich in die Hand bohrt, ohne einen Schmerz zu spüren. „Dabei wandte er den Blick nicht ab vom Wasser, und während er wartete, dass Michela gleich dort auftauchte, fragte er sich, wieso manche Dinge auf dem Wasser trieben und manche untergingen.“

Michela taucht nie wieder auf, weder tot noch lebendig. Jahre vergehen. Die Mutter schluckt Beruhigungstabletten und weint viel, Mattia verletzt sich regelmäßig, und der Vater ist so sicher, dass Mattia sich eines Tages selbst töten wird, dass er sich angewöhnt hat, von seinem Sohn schon jetzt in der Vergangenheit zu denken.

In der zehnten Klasse wechselt Mattia auf Alices Schule. Auch Alice ist eine Einzelgängerin. Seit einem Skiunfall, für den sie ihren ehrgeizigen Vater verantwortlich macht, ist ihr linkes Bein gelähmt. Sie hasst ihren Körper und verweigert ihm die Nahrung, um so auszusehen wie ihre Klassenkameradinnen, neben deren (ihrer Meinung nach) perfekten Körpern sie nicht bestehen kann. Gerne wäre sie mit der schönen Viola befreundet, die so beliebt wie gefürchtet ist und eine ausgewählte Clique von Mädchen um sich schart, von denen sie sich für ihre ebenso ausschweifenden wie frei erfundenen sexuellen Abenteuer bewundern lässt. Nach einem widerlichen Aufnahmeritual gehört auch Alice für kurze Zeit zu diesem erlesenen Kreis. Viola will Alice vor der „ewigen Jungfräulichkeit“ retten. Ort und Zeit der „Rettungsaktion“ stehen fest: Violas Zimmer an Violas Geburtstag. Nun muss nur noch der geeignete Junge her. Aus Gründen, die sie selbst nicht genau benennen kann, entscheidet sich Alice für Mattia.

Viel passiert nicht in Violas Zimmer; die beiden berühren sich nicht einmal, kommen aber Hand in Hand ins Wohnzimmer zurück. Von nun an sind sie befreundet, zwei Einzelgänger, die einander nahe stehen, aber nie nahe genug, um einander zu berühren, wie zwei Primzahlen, zwischen denen nur eine gerade Zahl steht: Primzahlzwillinge. Während der Kindergeburtstag mit dem Verschwinden der leiblichen Zwillingsschwester zusammenhängt, entsteht mit Violas Party eine neue Verbindung für Mattia.

Am nächsten Tag ist Viola ganz die Alte. Aus Neid, weil niemals ein Junge ihre Hand gehalten hat, kündigt sie Alice die Freundschaft. Daraufhin bittet Alice Mattia, mit einer Glasscherbe die Blume zu entfernen, die sie sich ein paar Tage vorher hat tätowieren lassen, um Viola zu gefallen – zumindest ein Anklang von Defloration, ansonsten bleibt die Freundschaft platonisch. Einseitig ist sie außerdem; die Initiative geht immer von Alice aus. Zwar fühlt sich Mattia wohl in ihrer Gegenwart: „Wenn er mit ihr zusammen war, schien es ihm plötzlich sinnvoll, all die Dinge zu tun, die normale Leute eben so taten.“ Trotzdem schafft er es nie, ihr zu zeigen, was sie ihm bedeutet, verliert sie schließlich an den Arzt Fabio und nimmt eine Stelle an einer skandinavischen Universität an. Jahre später sehen sie sich wieder, Alices Ehe ist in die Brüche gegangen, aber die letzte Chance für eine Annäherung verstreicht ungenutzt.

Und doch hat man am Ende des Buchs das Gefühl, dass es so ganz in Ordnung ist.
Es ist nicht unbedingt die Handlung, die dieses Buch so wertvoll macht. „Die Einsamkeit der Primzahlen“ besticht durch die dichte Schilderung des Leids der beiden Protagonisten, das man im ersten Moment vielleicht noch geneigt ist, als (mehr oder weniger) normale pubertäre Krise abzutun, das einen aber schon im nächsten Moment mit voller Wucht trifft. Die Grausamkeit unter Jugendlichen seziert Autor, der beim Erscheinen des Buches in Italien selbst erst 25 Jahre alt war,  minutiös und behandelt auch die schwierigen Themen Magersucht und Selbstverletzung, ohne zu dick aufzutragen oder in unangenehmes Pathos abzugleiten; im Gegenteil: Der heikle Inhalt wird ausbalanciert durch sachliche bis lakonische Bemerkungen, der Fokus liegt oft auf Nebensächlichkeiten, während das Eigentliche nur angeschnitten wird. Giordanos Szenen sind auf ihre ganz eigene Art klar, oft hellsichtig bis zur Schmerzgrenze; die Themen Magersucht und Selbstverletzung werden von ihm so behutsam behandelt, wie man es seinen Protagonisten wünschen würde, die in ihrer Welt (zunächst) nicht heimisch werden.
Am Ende des Buches verlässt man Alice und Mattia mit gemischten Gefühlen. Wer ein Happy End im klassischen Sinn erwartet, wird enttäuscht. Trotzdem ist das Ende nicht ohne Hoffnung.

Leider wird die Freude am Lesen Buches etwas getrübt durch das mangelhafte Lektorat, das der Blessing Verlag dem Buch angedeihen ließ. Grammatische und semantische Bezüge stimmen oft nicht, was einfach ärgerlich ist, nicht nur wegen des Preises von knapp 20 Euro. Es bleibt zu hoffen, dass diese Mängel in der nächsten Auflage beseitigt werden.

Literaturangabe:

GIORDANO, PAOLO: Die Einsamkeit der Primzahlen. Aus dem Italienischen von Bruno Genzler. Blessing Verlag, München 2009. 364 S., 19,95 €.

Weblink:

Blessing Verlag


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