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Helmut Schmidts Selbstbetrachtungen

„Außer Dienst“, die Bilanz von Alt-Kanzler Helmut Schmidt

© Die Berliner Literaturkritik, 12.12.08

 

Ein gutes Buch zur falschen Zeit? Schon Wochen vor dem Erinnerungszirkus, der nun anlässlich seines 90. Geburtstags eingesetzt hat, veröffentlichte Helmut Schmidt sein neues Buch. Schade, denn es droht unterzugehen zwischen all den Sonderausgaben, Titelgeschichten, Leitartikeln und Talkshows. Und das, obwohl es das Zeug hätte, zu einem Handbuch für Politiker zu werden.

„Außer Dienst“ ist keine Autobiographie. Stattdessen möchte Schmidt eine Bilanz ziehen. Oder, in der ihm eigenen Kürze: „Gegen Ende des Lebens wollte ich einmal aufschreiben, was ich glaube, im Laufe der Jahrzehnte politisch gelernt zu haben.“

Es sind dann auch Schmidts persönliche Erfahrungen, die dieses Buch so besonders machen. Was Schmidt über Deutschland, die Weltpolitik und den „Raubtierkapitalismus“ denkt, hat er bereits in anderen Büchern und Artikeln wiederholt geäußert. Darin ist „Außer Dienst“ eine bloße Aktualisierung, aber keine Revision früherer Positionen. Neu ist das Ausmaß von Selbstbetrachtungen, welches selbst eigene Fehler nicht ausspart.

Knapp 100 Seiten widmet Schmidt ausdrücklich der eigenen politischen Laufbahn und leitet daraus Lektionen für die Politiker von heute und morgen ab. Das können einfache Empfehlungen sein, wie etwa der Rat an alle Bundestagsabgeordneten, während ihrer politischen Tätigkeit möglichst viel zu reisen, vor allem in die aufstrebenden Nationen der Erde. Oder sein Hinweis, dass jeder, der die Gelegenheit dazu hat, unbedingt zwei Sprachen erlernen sollte, was Schmidt selbst versäumt und in den Gesprächen mit Valéry Giscard d’Estaing bereut habe.

Es ist schade, dass wohl nur jemand von Schmidts Statur solche Empfehlungen glaubhaft und jenseits der Floskel aussprechen kann. Denn natürlich ist die Welt heute globalisiert, sind zwei Fremdsprachen ein Minimum, denken Politiker im Rahmen der Weltwirtschaft, weil Deutschland doch ein Exportweltmeister ist, usw. usf.. Solche Hülsen ist man in der Mediendemokratie gewohnt und auch, dass sie mittlerweile im Sprachgebrauch jedes Provinzpolitikers vorkommen, der keine drei geraden Sätze auf Englisch zustande brächte, geschweige denn Chinesisch oder Russisch spräche.

Wie kommt es also, dass Schmidts Lektionen so glaubhaft und richtig scheinen? Zwei Gründe: Schmidts Sprache und sein Pragmatismus. Die Sprache ist eine Stärke des Altkanzlers, die viel zu wenig gewürdigt wird. Sowohl in seinen Reden als auch in seinen Büchern und Artikeln redet Schmidt Klartext und kommt auf den Punkt. Das sollte für alle Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens selbstverständlich sein, ist es in einer Zeit von „Spin-Doctors“ (politischen Reklamerednern), Wissenschaftssprech („Politologisch“) und einem Bundestag der Beamten und Juristen keineswegs. Der Wille und die Fähigkeit zu einem klaren Deutsch haben mit den Generationen nach Schmidt stark abgenommen.

Der Pragmatismus, der auch Vernunft oder Realitätssinn genannt wird, ist schließlich Schmidts zweite große Stärke. Zusammen mit seiner staatsmännischen Haltung trägt es zu der enormen Popularität dieses Kanzlers bei – ein Macher und kluger Verwalter des Staates, den sich gerade heute so viele zurückwünschen. Gewohnt pragmatisch gibt Schmidt sich auch in „Außer Dienst“. Das überzeugt, wo es um die konkreten Aufgaben und Herausforderungen des Politikers geht, also etwa die Planbarkeit einer politischen Karriere, das Verhältnis zu der Ministerialbürokratie oder Verhandlungen im Kabinett.

Weniger gut eignet sich Schmidts Pragmatismus dagegen für die Weltdeutung, an der es auch in „Außer Dienst“ nicht fehlt. Wenn Schmidt auf gerade einmal 50 Seiten die Weltreligionen in der Gegenwart und die daraus abgeleiteten Konflikte bewertet, dann ist das – bei allem Respekt – nicht ganz ernst zu nehmen. Ebenso wenig sind es Schmidts historische Ausflüge. In beiden Fällen bedient sich Schmidt sehr selektiv bei großen Denkern und Ideen. Es geht ihm dabei nicht um die Wahrheit des Wissens, sondern den praktischen Nutzen, den er daraus ziehen kann – was er indes nicht ausspricht.

Man mag sich zuweilen fragen, ob Schmidt die von ihm zitierten Autoren auch wirklich gründlich studiert hat. Es ist die eine Sache, ob er, der mehr Macher und weniger (aber nicht: kein) Denker ist, sie als schematische und verknappte Argumente für seine politischen Ansichten nutzt. Es ist etwas ganz anderes, wenn er dabei so unreflektiert ist, wie das zum Beispiel bei Gustave Le Bon, José Ortega y Gasset und Oswald Spengler der Fall ist. Diese drei Autoren hätten zu seiner Jugendlektüre gehört und ihre Werke hätten ihm erstmals den „Begriff der Masse und psychologische Verführbarkeiten deutlich“ gemacht und die Idee vom kulturellen Niedergang habe ihm „eingeleuchtet“. Kein Wort davon, dass alle drei Autoren einem – in einer Demokratie! – fragwürdigen „Elite-Massen“-Denken verhaftet waren und ihre Ideen vielleicht falsch waren.

Man mag das als kleinliche Kritik abtun, aber es zeigt letztlich Schmidts Grenzen auf. Auch er ist ein „Kind seiner Zeit“ und hat als solches Ansichten, die er nicht aus höherer Erkenntnis, sondern infolge historischer Sozialisation gewonnen hat. Sein Pragmatismus ist in diesem Sinne selbst historisch zu nennen, eine Summe von Erfahrungen aus seiner aktiven Zeit, die auf die heutige Welt in einigen Punkten einfach nicht übertragbar ist. Auch in dem Juli 2008 abgeschlossenen „Außer Dienst“ gibt es wieder Fehlurteile, am augenfälligsten die Behauptung, Russland würde keine militärische Bedrohung mehr darstellen.

Ein wenig erinnert Schmidts viel gelobter Pragmatismus an einen Ausspruch Albert Einsteins. Der soll über den gesunden Menschenverstand gesagt haben, dass dieser „eine Ansammlung von Vorurteilen [ist], die man bis zum 18. Lebensjahr erwirbt“. Oder bis zum 90.

Von Thomas Hajduk

Literaturangaben:
SCHMIDT, HELMUT: Außer Dienst. Eine Bilanz. Siedler, München 2008. 352 S., 22,95 €.

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