Henry Kissinger: China. Zwischen Tradition und Herausforderung (Originaltitel: On China. Penguin Press, New York 2011). Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Oliver Grasmück, Norbert Juraschitz, Helmut Ettinger, Michael Müller. Deutsche Erstausgabe. C. Bertelsmann, München 2011. Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 608 Seiten, 16 S. s/w-Bildteil, 1 Karte im Vor- und Nachsatz. ISBN: 978-3-570-10056-1.
Von Stephanie Schick
Schach bedeutet dem Namen nach König. Vielleicht, weil es gern von Königen gespielt wurde. Vielleicht weil die Hauptfigur der König ist. Es gilt ihn „matt“ zu setzen. Beim Schach bestimmen verschiedene Figuren mit ihren jeweiligen Besonderheiten und speziellen „Kampftechniken“ das Spiel. Am Ende gewinnt, wer mit seinen Figuren den gegnerischen König blockiert.
Henry Kissinger, ehemaliger US-Außenminister, Friedensnobelpreisträger und Autor des 600 Seiten starken Buches "China. Zwischen Tradition und Herausforderung", beherrscht sicherlich das Schachspiel. Auch dem Leser helfen Grundkenntnisse dieses strategischen Spiels während der Lektüre weiter. Zumal Kissinger als Pendant dazu immer wieder das Jahrtausende alte, beliebte chinesische Brettspiel „Weiqi“ erwähnt. Es dient oft als Erklärung, wenn Kissinger für uns undurchsichtige chinesische Handlungsweisen dechiffriert. Eine Gegenüberstellung von Schach und Weiqi erleichtert den Zugang in die chinesische Welt. Die Symbolik beider Spiele trägt viel zu gegenseitigem Verständnis bei.
Dabei doziert Kissinger nicht über die Spielregeln. Er bedient sich vielmehr eines Kunstgriffes, um verborgene Denkmuster des Ostens bzw. des Westens offen zu legen. Während Schach vordergründig eine Materialschlacht ist, geht es beim Weiqi um Flächengewinnung. Bis zum Schluss bleibt offen, wer das Spiel dominiert. Der Laie erkennt selbst nach Spielende kaum, wer der Sieger ist. Wie viele Steine man dem Gegner genommen hat? Irrelevant. „Einkesseln, ohne selbst umzingelt zu werden“, lautet die Devise und mutet leichter an, als es sich umsetzen lässt.
Kissinger tut gut daran, seine Erinnerungen und Erfahrungen nicht chronologisch aneinander zu reihen, sondern sie geschickt und anschaulich nach Themen sortiert zu präsentieren. Als ehemaliger US-Außenminister und Experte erzählt er Chinas Geschichte allerdings von Anfang an. Er betont, dass die Chinesen heute nicht nur Jahrtausende alte Brettspiele spielen, sondern auch genauso alte Schriftzeichen gebrauchen! Wer kann hierzulande noch Runen oder Hieroglyphen entziffern? Wer weiß aus dem Stehgreif, wo die Reichsgrenzen unter Karl dem Großen verliefen? Die Chinesen berufen sich auch heute noch auf ähnlich alte Grenzen, sie verwenden Metaphern und Redewendungen aus einer Zeit vor Christi Geburt. So verwundert es auch nicht, wenn Mao seine Kampfgenossen mit Kriegsstrategien aus steinalten Büchern einschwor und dabei kein Naserümpfen, sondern höchste Anerkennung errang. Diesbezüglich offenbaren sich auch wieder Parallelen zu Weiqi.
Den Zeitgenossen, allen voran Chruschtschow, bereitete Maos politisches Taktieren Kopfschmerzen. Chruschtschows Verständnis nach folgte einem Angriff ein Gegenangriff. Offensichtlich bevorstehenden Interventionen kam man möglichst zuvor. Warum Mao zeitlebens mit einem drohenden Atomkrieg nicht zu beeindrucken war, konnte niemand nachvollziehen. Hier helfen Kissingers elegant platzierte Anekdoten und Weiqi-Parallelen weiter. Die Beispiele und Querverweise unterfüttern sein profundes Wissen und sind in ihrer großen Anzahl niemals trivial oder redundant.
Außerdem kommt Henry Kissingers Buch zum rechten Zeitpunkt. Während der Westen zu kollabieren droht, hat sich im Osten eine Weltmacht erhoben. Wer das globale Ringen auch zukünftig verstehen möchte, der kann bei Kissinger viel lernen. Dabei schürt er keineswegs die „Angst vorm gelben Riesen“. Er gibt aber zu bedenken, dass diesem Weltreich mehr Respekt gebühre. In seinem Buch beschreibt Kissinger, wie zahlreiche Diplomaten und Gesandte westlicher Gefilde sich selbst diskreditierten, weil sie chinesische Gepflogenheiten entweder nicht kannten oder sie missachteten. In einer Zeit, die ohne China nicht funktioniert, schadet es daher kaum, mehr über dieses rätselhafte Land zu erfahren - in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht.
Dem Stil nach lässt das Buch sich so leicht lesen wie ein Roman; es verbindet Spannung mit Kenntnisreichtum. Henry Kissinger schreibt scharfsinnig und gekonnt und tritt damit in die Fußstapfen Winston Churchills. Dieser bekam immerhin nicht für seine politischen Verdienste einen Nobelpreis, sondern für seine Literatur …