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Herakles, Theseus und Ödipus

Luc Ferrys „Leben lernen. Die Weisheit der Mythen“

© Die Berliner Literaturkritik, 03.08.10

Von Leonhard Reul

Leben lernen – was für ein Titel und was für ein Projekt! Der Franzose Luc Ferry, lange Jahre  Professor für Philosophie und zwei Jahre Erziehungsminister, hat im Kunstmann Verlag sein zweites Buch vorgelegt. Der erste Band (2007) beschäftigte sich mit der Philosophie als hilfreicher Lebenstechnik und startete selbstredend mit antiken Denkern. Nun erklärt uns Ferry die Welt der großen griechischen Mythen. Er bindet sein neues Buch ans erste an, indem er die Mythen als Vorstufe der Philosophie liest. Für ihn sind Mythen nicht rational argumentierende, gleichsam aber das Ziel der Lebensweisheit im Blick habende Schriften.

Diese Lesart schlägt er uns gleich in der Einleitung vor und das ist eine erfreuliche Strukturierung. Schon zu Beginn weiß so der Leser, wie Ferry sich der mythologischen Texte annehmen wird. Ferry will zweierlei: Zunächst einmal will er uns wieder mit den faszinierenden Geschichten über Götter und Sterbliche vertraut machen. Denn er misst diesen Texten eine immense Aussagekraft zu, in ihnen stecke mehr Leben (und Weisheit über das Leben) als in den meisten literarischen Produktionen unserer Tage. Allerdings soll der Mythen-Leser in diesen Geschichten nicht mehr nur Abenteuer von recht chaotischen Götterfiguren sehen. Viele Fibeln für junge Leser verleiten nach Ferry zu dieser falschen einseitigen Lesart. Durch die nacherzählende Wiedereinordnung der Geschichten in ihren ursprünglichen zeitlichen und inhaltlichen Kontext will er diesen Missstand abstellen.

Diese Nacherzählungen gelingen Luc Ferry recht ordentlich. Er beginnt bei Chaos und Gaia und endet mit Odysseus und seiner Tochter Antigone. Niemand muss irgendein Vorwissen für die Lektüre mitbringen. Dem Leser werden wie einem Kinde Geschichte für Geschichte erzählt, unbekannte Begriffe erklärt und oft auch Originalzitate aus den Mythen gebracht. Den fortgeschrittenen Leser könnte diese didaktische Vorgehensweise manchmal etwas stören – Ferry schneidet beispielsweise die Odyssee genau so zurecht, dass seine Theorien leicht nachvollziehbar bestätigt werden. Dass man in der Irrfahrt des Ithakers die Wiederholung von Zeus’ Kampf gegen das Chaos und die Rückkehr zum Kosmos (=Ordnung) lesen kann, steht außer Frage. Dass man sie aber gleichsam nicht ausschließlich so interpretieren muss, auch. Sonst ist Ferry aber für seine Darstellung zu loben – der Leser kommt mit vielen Geschichten in Kontakt, die er in Gustav Schwabs Heldensagen nie gelesen hat. Allein schon, dass Ferry die Kosmogonie als Theogonie so klar und schlüssig darstellt ist ein großes Verdienst – die Quelltexte bei Hesiod gehören trotz ihrer sprachlichen Schönheit nicht zu den stringentesten. Auch verwendet Ferry stets eine Vielzahl von Mythen, um seine Thesen zu stützen und weidet nicht nur eine einzige Geschichte auf hunderten von Seiten thesenkonform aus.

Was aber sind nun seine Thesen? Kommen wir somit also zu Ferrys zweiter Absicht. Mythen transportieren Weisheitswissen. Und dieses mythologische „savoir vivre“ ist uns nicht mehr geläufig. Ferry versucht uns aufzuzeigen, wie wir die Texte über die Olympier lesen sollten, um mehr in ihnen zu finden als nur unverständlich erscheinende anthropomorphe, mitunter grausame Taten der Götter. Ferry präsentiert Zeus als gerechten und wissenden Göttervater. Dieser hat nach seinem siegreichen Kampf gegen die erste Göttergeneration (mit der chaotischen Urkraft, Gaia und den Giganten als Gegnern) das Ziel einer ausgewogenen stabilen Weltenordnung. Modern gesprochen ist ihm die Balance und ein (ökologisches Kräfte-) Gleichgewicht sehr wichtig. Stören aufmüpfige Götter oder Sterbliche diese Stabilität aus Gründen der Selbstüberschätzung und Anmaßung (Hybris), müssen sie vom Weltenbewahrer Zeus zur Ordnung gerufen werden. Dies geschieht mitunter mit drastischen, aber stets didaktischen, weil im Verhältnis zur Tat stehenden Strafen. Diesen Strafen kann der Lebenskluge aber leicht entgehen – „erkenne dich selbst“ ist hierfür die Lösung, die schon das delphische Orakel bereithält. Nicht psychoanalytisches, sondern kosmisches Selbsterkennen („Wo ist mein Platz im Gefüge der Welt?“) ist ein probates Mittel, um selbst als Sterblicher glücklich und ohne den Zorn der wachsamen Götter leben zu können. Ferry schlägt uns eine Lesart der Mythologie vor, die uns vor Selbstüberschätzung und Selbstüberforderung bewahren will – und uns somit letztlich nur gut tun kann.

Am Schluss des Buches steht seine Annahme, die Mythologie beeinflusse die Philosophie vor allem durch ihre „laizistische Spiritualität“. Im letzten, siebten Kapitel (das erste widmet sich der Geburt der Götter, das zweite der der Menschen, im dritten ist Odysseus Irrfahrt Thema, im vierten nimmt sich Ferry Mythen der Hybris vor und im fünften wird das Konzept der Dike, der Gerechtigkeit – oftmals Projekt der Helden – präsentiert, das sechste widmet sich der Tragödie von Antigone) führt er dies näher aus. Die philosophische Größe der Götter-Mythen bestehe darin, „die Frage nach dem Heil der Menschen unter Verzicht auf ihre (göttliche) Macht zu lösen: An uns sterblichen Menschen und an uns allein liegt es, so gut wie möglich damit fertig zu werden, unvollkommen bestimmt, aber aus uns selbst und unserer Vernunft, und nicht mithilfe des Glaubens und der Hilfe der Unsterblichen.“ Das ist in der Tat bedenkenswert.

In Summe ein gelungener frischer Blick auf die Welt der Mythologie – anschaulich referiert und dank einer durchgängig stichhaltigen Argumentation sehr leicht lesbar. Allerdings gibt es eine formale Kritik anzubringen: Immer öfter wird in der auch für Laien verständlichen und dennoch wissenschaftlichen Literatur auf das Literaturverzeichnis (hier: Sekundärliteratur) verzichtet – so als wäre mit der jeweiligen Hin- oder Einführung schon alles zum Thema gesagt und Weiter- oder Nachlesen völlig unnötig. Doch auch das ist Hybris – und zumindest Luc Ferry müsste diesen Verdacht eigentlich vermeiden wollen!

Literaturangabe:

FERRY, LUC: Leben lernen. Die Weisheit der Mythen. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 427 S., 24,90 €.

Weblink:

Verlag Antje Kunstmann


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