MÜNCHEN (BLK) – Der 9. Band der Werkausgabe von Jorge Luis Borges ist im Hanser Verlag erschienen.
Klappentext: Mit diesem Band ist die Edition der Gedichte von Jorge Luis Borges abgeschlossen – eines der größten Dichter des 20. Jahrhunderts. Die Bedeutung des aus Argentinien stammenden Lyrikers Borges ist langsam, aber dann umso deutlicher erkannt worden: „Heraus mit den Trompeten und fest hineingeblasen“, so begrüßte Michael Maar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die Neuausgabe, mit der diese Gedichte in einer bislang unerreichten Vollständigkeit geboten werden. Diese Ausgabe wird nun fortgesetzt mit dem Band, der die Werke der siebziger und achtziger Jahre versammelt, also die späten Gedichte, in denen Borges eine vollkommene Beherrschung aller Formen und Themen erreicht hatte. (fri/wip)
Leseprobe:
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Things that Might Have Been
Pienso en las cosas que pudieron ser y no fueron.
El tratado de mitología sajona que Beda no escribió.
La obra inconcebible que a Dante le fue dado acaso entrever,
Ya corregido el último verso de la Comedia.
La historia sin la tarde de la Cruz y la tarde de la cicuta.
La historia sin el rostro de Helena.
El hombre sin los ojos, que nos han deparado la luna.
En las tres jornadas de Gettysburg la victoria del Sur.
El amor que no compartimos.
El dilatado imperio que los Vikings no quisieron fundar.
El orbe sin la rueda o sin la rosa.
El juicio de John Donne sobre Shakespeare.
El otro cuerno del Unicornio.
El ave fabulosa de Irlanda, que está en dos lugares a un
tiempo.
El hijo que no tuve.
Things that Might Have Been
Ich denk an die Dinge, die hätten sein können und nicht
waren.
Der Traktat über sächsische Mythologie, den Beda nicht
schrieb.
Das unfaßbare Werk, das Dante vielleicht zu ahnen gegeben
war,
als er den letzten Vers der Komödie schon korrigiert hatte.
Die Geschichte ohne den Kreuzesabend und den
Schierlingsabend.
Die Geschichte ohne Helenas Gesicht.
Der Mensch ohne die Augen, die uns den Mond beschert
haben.
An den drei Tagen von Gettysburg der Sieg des Südens.
Die Liebe, die wir nicht geteilt haben.
Das weite Imperium, das die Wikinger nicht gründen wollten.
Der Erdkreis ohne das Rad oder die Rose.
Das Urteil von John Donne über Shakespeare.
Das andere Horn des Einhorns.
Der Fabelvogel Irlands, der gleichzeitig an zwei Orten ist.
Der Sohn, den ich nicht hatte.
El enamorado
Lunas, marfiles, instrumentos, rosas,
Lámparas y la línea de Durero,
Las nueve cifras y el cambiante cero,
Debo fingir que existen esas cosas.
Debo fingir que en el pasado fueron
Persépolis y Roma y que una arena
Sutil midió la suerte de la almena
Que los siglos de hierro deshicieron.
Debo fingir las armas y la pira
De la epopeya y los pesados mares
Que roen de la tierra los pilares.
Debo fingir que hay otros. Es mentira.
Sólo tú eres. Tú, mi desventura
Y mi ventura, inagotable y pura.
Der Verliebte
Monde, Elfenbein, Instrumente, Rosen,
Lampen und die Linie von Dürer, die
neun Ziffern und die wandelbare Null,
ich muß so tun, als gäb es diese Dinge.
Ich muß so tun, als hätte es gegeben
Persepolis und Rom, als hätte feiner
Sand das Geschick der Zinne abgemessen,
die ehern die Jahrhunderte zerrieben.
Ich muß die Waffen und den Scheiterhaufen
des Epos und die schweren Meere, die
der Erde Säulen benagen, erheucheln.
Ich muß so tun, als gäb es andere.
Lüge. Es gibt nur dich. Dich, mein Unheil
und mein Glück, unerschöpflich und lauter.
G. A. Bürger
No acabo de entender
por qué me afectan de este modo las cosas
que le sucedieron a Bürger
(sus dos fechas están en la enciclopedia)
en una de las ciudades de la llanura,
junto al río que tiene una sola margen
en la que crece la palmera, no el pino.
Al igual de todos los hombres,
dijo y oyó mentiras,
fue traicionado y fue traidor,
agonizó de amor muchas veces
y, tras la noche del insomnio,
vio los cristales grises del alba,
pero mereció la gran voz de Shakespeare
(en la que están las otras)
y la de Angelus Silesius de Breslau
y con falso descuido limó algún verso,
en el estilo de su época.
Sabía que el presente no es otra cosa
que una partícula fugaz del pasado
y que estamos hechos de olvido:
sabiduría tan inútil
como los corolarios de Spinoza
o las magias del miedo.
En la ciudad junto al río inmóvil,
unos dos mil años después de la muerte de un dios
(la historia que refiero es antigua),
Bürger está solo y ahora,
precisamente ahora, lima unos versos.
228
G. A. Bürger
Ich kann nicht begreifen,
warum mich die Dinge so sehr berühren,
die Bürger widerfuhren
(seine beiden Daten stehen in der Enzyklopädie)
in einer der Städte des Flachlands,
beim Fluß der nur ein Ufer hat
auf dem die Palme wächst, nicht die Fichte.
Wie alle Menschen
sagte und hörte er Lügen,
war verraten und Verräter,
litt oft die Agonie der Liebe,
und nach der Nacht der Schlaflosigkeit
sah er die grauen Scheiben des Morgens,
aber er verdiente Shakespeares große Stimme
(in der die anderen sind)
und die des Angelus Silesius aus Breslau,
und scheinbar achtlos feilte er irgendeinen Vers
im Stil seiner Zeit.
Er wußte, daß die Gegenwart nichts anderes ist
als ein flüchtiges Partikel der Vergangenheit,
und daß wir aus Vergessen gemacht sind:
Weisheit so nutzlos
wie die Korollarien Spinozas
oder die Magien der Angst.
In der Stadt am unbewegten Fluß
an die zweitausend Jahre nach dem Tod eines Gottes
(die Geschichte, die ich erzähle, ist alt)
ist Bürger allein und jetzt,
genau jetzt, feilt er einige Verse.
La espera
Antes que suene el presuroso timbre
Y abran la puerta y entres, oh esperada
Por la ansiedad, el universo tiene
Que haber ejecutado una infinita
Serie de actos concretos. Nadie puede
Computar ese vértigo, la cifra
De lo que multiplican los espejos,
De sombras que se alargan y regresan,
De pasos que divergen y convergen.
La arena no sabría numerarlos.
(En mi pecho, el reloj de sangre mide
El temeroso tiempo de la espera.)
Antes que llegues,
Un monje tiene que soñar con un ancla,
Un tigre tiene que morir en Sumatra,
Nueve hombres tienen que morir en Borneo.
Das Warten
Eh die eilige Klingel schellt, und jemand
öffnet die Tür, und du trittst ein, o du
von der Sehnsucht Erwartete, muß das
All eine endlose Reihe konkreter
Akte ausgeführt haben. Niemand kann
je diesen Taumel berechnen, die Ziffer
dessen, was die Spiegel vervielfachen,
der Schatten, die sich ausdehnen und schrumpfen,
der Schritte, die sich trennen und sich treffen.
Alle Sandkörner könnten sie nicht zählen.
(Die Uhr aus Blut in meiner Brust ermißt
die zaghafte Zeit des Wartens.)
Ehe du kommst,
muß ein Mönch von einem Anker träumen,
muß ein Tiger in Sumatra sterben,
müssen neun Menschen sterben auf Borneo.
© Hanser ©
Literaturangaben:
BORGES, JORGE LUIS: Gesammelte Werke Band 9. Der Gedichte dritter Teil. Die tiefe Rose / Die eiserne Münze / Geschichte der Nacht / Die Ziffer / Die Verschworenen. Übersetzt aus dem Spanischen von Gisbert Haefs. Herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Hanser, München 2008. 488 S., 25,90 €.
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