In gepflegter Aufmachung kommt ein kleines Büchlein älterer Provenienz aus der Reihe Lilienfeldiana daher. Nicht nur die einnehmende Aufmachung, auch der Text bietet einen ungewohnten Reiz: Handelt es sich bei den veröffentlichten Texten dieser Reihe doch um kurze Romane, Novellen oder Essays, die, vor langen Jahren geschrieben, hier Wiederaufnahme finden.
Herbert Schlüter hat den Text zum vorliegenden Roman bereits 1933 kurz vor seiner Emigration aus Nazideutschland verfasst und 1947 erstmals veröffentlicht. Er gehörte zum Kreis der „Jüngsten Deutschlands“, einer in den Roaring Twenties als Avantgarde auftretenden Künstlerbewegung, zu der auch Weggenossen wie Klaus Mann gehörten.
Zunächst meint man, den Text des Romans in der Nachfolge Fontanes einordnen zu wollen. Zu schön sind die Landschaftsbeschreibungen der märkischen Güter und der Lebensart ihrer Bewohner. Doch geht es um die zwanziger Jahre, als nach dem ersten Weltkrieg die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einem schnellen Wandel unterworfen waren.
Eine zusammengewürfelte Gesellschaft findet sich auf dem Landgut der etwa dreißigjährigen Victoria in Wolkin im Märkischen ein. Ihr Cousin Peter, der Gärtnervolontär Robert und seine Freundin Isolde gehören zum engen Kreis. Ein Dichter und pensionierte Beamte, die einander in losen verwandtschaftlichen Beziehungen verbunden sind, ergänzen den Reigen der Protagonisten. Anspruchsvolle Unterhaltungen, Bootstouren, Angelausflüge und gesellige Veranstaltungen bilden den Rahmen für eine bewegte Handlung, bei der es um erste und späte Liebe geht, um Verlassenheit, Neugier und Aufbruch. So sind Robert und Isolde ein sehr junges Paar, die eher ältliche Victoria liebt den Dichter Anton Mühsal, einen Bonvivant von unzuverlässigem Charakter, der ihre Liebe überhaupt nicht erwidert. Aus der Perspektive des dreizehnjährigen Peter sieht die Welt verwirrend und anziehend aus. Er hat noch einen naiven und arglosen Blick, mit dem er den verborgenen Gefühlen der Anwesenden nachspürt. Fünf Jahre später blickt er mit geschärfter Wahrnehmung erneut auf die gleiche Gesellschaft und verliert nach und nach seine Illusionen. Verschiedene Liebesbeziehungen, zuerst erblühend und voller Hoffnung, dann kompliziert und vereinzelt tragisch und unerfüllt, geben der Geschichte einen melancholischen Glanz. Selbsttäuschungen und Wahrnehmungsirritationen machen einer nüchternen Realität Platz, die dem Zauber der Jugend weichen muss.
Herbert Schlüter ist ein sensibler Beobachter, der mit vielgestaltiger Wortwahl den Gefühlen der Jungen und Mädchen, der Männer und Frauen Ausdruck gibt. Pubertärer Neugier wird genauso Raum gegeben wie enttäuschenden Liebesbeziehungen und der morbiden und komplizierten Beziehung eines Onkels, auch noch Pfarrer von Beruf, zu seiner Nichte. Die unterschiedlichsten Charaktere spiegeln den Zeitgeist wider, in dem Freizügigkeit und Reste verbogener Moral und der Anstand vergangener Epochen miteinander kollidieren.
Empfindsamkeit, Reflexion und Neurosen; Verschiebung der Blickwinkel und gesellschaftliche Umbrüche, Selbsttäuschung und Desillusionierung zeugen von der Mischung aus Realismus und Empfindsamkeit in der dichterischen Darstellung des Autors. Der Übergang von provinzieller Verträumtheit hin zur Öffnung in eine kosmopolitische Lebenswelt rund um das Berlin und Paris der zwanziger Jahre erfährt eine vorzügliche Darstellung. Die verrinnende Zeit, die mit spürbaren mentalen und körperlichen Einbußen für jeden einhergeht, wird tiefenscharf abgehandelt. Schlüter ist ein Meister der feinen Poesie und der empfindsamen Beobachtung, die er in seinem kleinen Werk kunstvoll zur Vollendung bringt. Im Anhang ist Näheres über den Dichter und seine Zeit zu erfahren.
Von Claudine Borries
Literaturangaben:
SCHLÜTER, HERBERT: Nach fünf Jahren. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2008. 192 S., 19,90 €.
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