STEINER, THOMAS: Störung der Bilder. IL-Verlag, Basel 2010. 68 S., 9,60 €.
Von Armin Steigenberger
Zunächst las ich Thomas Steiners Gedichtband mit Stirnrunzeln. Es sind Texte, die sich großflächig auf dem Papier verteilen, viel Raum einnehmen für, wie es anfangs aussah, dürftigen Gehalt. Worum geht‘s denn da bitte? Macht es sich der Dichter nicht doch etwas zu einfach? So schien es auf den ersten Blick. Zudem wirkte die unabänderliche Kleinschreibung zusammen mit den vielen Einsen („1“ für „ein“, „eine“), Zahlen und Kaufmannsunds („&“ für „und“) – die sich anscheinend durchgängig verselbstständigt hatten, vollautomatisiert herumwimmelten und somit jeden Text stereotyp inszenierten – ziemlich austauschbar. Das hat man oft schon gesehen. Lyrik von der Stange?
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wir waren im zoo
& versteckten uns vor der welt.
bei den krokodilen waren wir lange
& schauten sie nicht an.
die krokodile aber, die
sahen uns & schmatzen
& träumten vom fliegen
Steiners Gedichte kommen beim ersten Lesen annähernd bildlos und eher prosaisch daher und setzen somit kaum auf die Explosivkraft einer Bildlichkeit. Es scheint, als hätten sie weder eine neue Stimme zu bieten noch besäßen sie einen innovativen Tonfall. Vielmehr kommen sie auf eine stille und verschrobene Art leisetreterisch daher, fast möchte man sagen – hinterfotzige Poesie. Das ist genau der Moment, wo man ein Buch auf die Seite legt und sagt: Naja, da kommt nichts mehr; das erschöpft sich in diesem verhalten vorgetragenen Tonfall, den man längst kennt. Doch für mich stand fest: da ist was. Dahinter steckt etwas, wie ein verborgenes Reservoir, das man (sich) erschließen muss. Etwas höchst Spannendes. Zunächst schwer zu formulieren, was es ist, aber das lohnt sich, an die Oberfläche geholt zu werden. Das ist zudem keine Masche, auch wenn es anfangs so aussieht: das ist weder nichtssagend noch ist es jene solid gebaute stromlinienförmige Retortenlyrik mit all ihren angesagten soliden Themen, wie man sie derzeit in vielfach gehypten Gedichtbänden junger aufstrebender solider Lyriker zuhauf zu lesen bekommt. Das hier – ist etwas anderes. Es sträubt sich beim Lesen. Es will nicht so recht heraus aus seinen Worten. So scheint es. Diese Texte haben nichts Sensationelles, was gleich heraus blinkt; sie sind eher trocken, abstrakt; und gerade darin lohnenswert.
Hier blinkt es erst auf den zweiten Blick. Nennen wir es das unausgeschöpfte Potenzial der Worte. Hier schlummert etwas. Hier sind die Worte nicht auf maximale Wirkung hin durchformuliert, wo man quasi per Formel ausrechnen könnte, wie viele Bilder welchen Wirkungsgrad entfalten. Steiners Gedichte sind wesentlich subtiler, tragen ihren Gehalt nicht so offen herum. Sind nicht selbstgefällig. Das gerade nicht. Sie wirken einfach gestrickt, haben einen ernsten, lakonischen Tonfall und leben vom wiederholten Lesen. Ähnlich einem Mantra wirken sie verhalten vorgetragen, fast geflüstert. Das ist genau das Gegenteil von theatralisch-effektösem Spoken-Word-Gehabe mit dem wichtigtuerischen Performanzfaktor; es sind keine Wortgesten, es ist kein postpubertäres Kalauern und kein selbstverliebtes Liesmichweilichsosexybin. Was hier beim ersten Mal Lesen geradezu banal wirkt, wird – je öfter man es anschaut – umso absurder und geradezu aberwitzig.
rot & grün
habe eine paprika gekauft, eine grüne
& legte sie auf mein rotes tischtuch.
da sah sie schön aus:
rot & grün verträgt sich gut.
ich freute mich, sie zu essen
& dann aß ich sie.
schade
dass sie jetzt weg ist.
In 80 % der konventionellen Textseminare hätte man dem Autor geraten, die letzten beiden Verszeilen wegzulassen. Doch genau die machen es hier aus: dieser koboldhafte, aberwitzige Kommentar, nahezu ein Witz, wirkt erst recht durch das Nachgestellte absurd, ja fast lächerlich. Das Gedicht selbst wirkt beinahe wie eine Parodie: denn war es nicht Benn, der die Verwendung in Farben als unzulässig erklärte, weil sie reine „Wortklischees“ produzierten? Steiners Texte wirken geradezu gespickt mit Farbadjektiven. Benn zum Trotz? So kommen in Steiners Texten bunte Mäuse und blutende Ratten vor, gerade als würden Farben und Ratten Richtung Benn ein paar Nasen machen. Doch Seitenhiebe sind eigentlich auch nicht das, woraus die Gedichte ihre schlagkräftige Nachhaltigkeit beziehen. Ist es Lyrik mit zeitverzögerter Langzeitwirkung?
am letzten tag meines lebens
schien die sonne. soviel weiß ich noch.
es war warm & viele menschen & hunde waren
auf der straße. nie hätte ich gedacht, dass dabei
die sonne scheint.
Ganz allmählich erst entspinnt sich dieses feine Gewirk an Texten. Was da zunächst so unspektakulär wirkt, bekommt in den meisten Fällen im Nachhinein eine ganz außergewöhnliche Brisanz. Die Themen sind immer diffizil, immer delikat, haben ihre eigentliche Kraft im Nicht-Sichtbaren: worum es geht, steht – wo auch sonst – zwischen den Zeilen, hat sein tatsächliches Thema nicht im Text und schon gar nicht im Titel. Die Gedichte operieren aus der Hinterhand und stehen selbst eigentlich gar nicht auf dem Papier. Es sind Texte, die ganz wenig von sich vorzeigen. Die Oberfläche verschließt ihre Inhalte. Und doch geht es um die ganz großen, die ganz brisanten Themen: um Tod, um den Verlust eigener Kinder, um Verletzlichkeit, Trauer und Schmerz. Thematisiert werden Scham, Angst, Vergänglichkeit sowie Selbstreflexion und das Sich-Verändern über die Zeit. Ein Zyklus, mit dem der Dichter in Irsee einen Preis gewann, heißt die liebe, der tod und die mäuse.
mäuse
in meinem keller wohnen die mäuse
rote & gelbe, blaue & grüne
mit weichem fell
pelzig, samtig, seidig
&aus schwarzem leder.
sie nisten dort unten
& kommen zu mir, manchmal
& zeigen sich
kurz nur
ein buntes huschen im abenddunkel.
Nach und nach kristallisieren sich immer deutlicher die Facetten eines Ich heraus, das sich vor der Welt versteckt, was im eingangs vorgestellten Gedicht wir waren im zoo mitschwingt. Eine sprübare Scheu vor der Welt: & versteckten uns vor der welt, sagt hier ein sich selbst beobachtender imaginärer Kommentator zu sich selbst, der sich selber beim Handeln und Denken zusieht.
Das Ich darin, das lyrische, ein – könnte man sagen – komödiantischer, sehr empfindsamer und oft schamhafter Antiheld, hat auch zuweilen etwas clownesk-naives. Er ist oft bei sich, separiert von den anderen, reflektiert über sich und sein unüberlegtes Tun. Auch wenn es nicht dasteht: Es schämt sich, für Streiche aus der Kindheit, wo ein Regenwurm, in Spiritus getaucht, sofort tot war. Wo es Gin in einen Schuh schüttet und feststellt, dass das Getränk davon dunkelt. Dieses Ich hat ein besonderes Verhältnis zur Gesellschaft. Ab und zu ist leichter Verdruss fühlbar, eine Spur Weltekel, stets überlagert vom Selbstekel, besser gesagt von der Trauer, so (geworden) zu sein, wie es ist. So werden die Mechanismen der Welt, des „draußen“, wo Erfolg, Durchsetzungskraft, Dynamik und Marketingbewusstsein zählen, in kleinen „Nebenworten“ geradezu boshaft eingefangen und karikiert.
Diese Poesie, mit ihrem dezenten, minimalistischen Auftritt, kratzt gehörig an der Oberfläche. Sie ist „von innen heraus“ politisch, hat sich im Kleinen Großes vorgenommen – was im Zweifelsfall die bessere Strategie ist, als mit einem sensationellen Großauftritt ein kleines Ziel zu haben. Oder gar keines.
kein gedicht über den aufwachraum
ich war dort & schaute zur wand
draußen schien die sonne
die mäuse huschten
& die schafe fraßen das gras
trinker tranken &
es wurde viel gegessen (wir sind 1 gefräßiges
geschlecht) bei geschlossenen augen
kamen halluzinationen.
Das lyrische Ich in den Gedichten Thomas Steiners entwickelt sich beim Lesen zur unverkennbaren „Marke“ und findet in seiner unmittelbaren häuslichen Umgebung genug Explosives, aus dem heraus seine fragile Lyrik sich entfesselt. Dieses Ich spiegelt sich in animalischen Pendants wie Mäusen, Ratten, Spinnen, Regenwürmern – neben Schafen, Katzen, Hühnern, die für etwas anderes stehen – gewissermaßen ein Bestiarium „niederer“ Lebensarten. Krokodile nicht zu vergessen, die vom Fliegen träumen. Diese Dichtung besitzt ordentlich Subversivkraft auf engstem Raum. Sie ist hochkonzentrierter Sprengstoff.
kleine brandlöcher
unter dem dach
mit kaltem schrecken ent-
deckt, jahre alt, jahrzehnte
vielleicht sogar
von mir.
Alles in allem: Thomas Steiners Gedichte sind nicht sexy, wie z. B. amerikanische Gegenwartslyrik sexy ist. Sie sind nicht angesagt wie das, was in so manchen jüngst aus dem Boden geschossenen Lyrikverlagen momentan publiziert wird. Sie wird keinen neuen Hype begründen. Ich glaube, das genau ist ihr Charme.
BIO:
Thomas Steiner, 1961 bei Reutte in Tirol geboren, schreibt Gedichte und Kurzgeschichten. Diese wurden mehrfach ausgezeichnet, u. a. beim Feldkircher Lyrikpreis 2007 und beim Irseer Pegasus 2011. Er lebt in Neu-Ulm.
Weblink: IL-Verlag