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Europas Kredit fast verspielt

Laqueur schreibt über Europa mit Endzeit-Stimmung

© Die Berliner Literaturkritik, 29.12.09

BERLIN (BLK) - Man kann es wenden, wie man will: Nach der Lektüre der mehr als 300 Seiten starken Autobiografie „Mein 20. Jahrhundert - Stationen eines politischen Lebens“ hat Walter Laqueur seine Leser überzeugt: „Europa hat seinen moralischen Kredit weitgehend verspielt.“ Den 1921 in Breslau geborenen Historiker „schaudert“ es, wenn er sich die Hilflosigkeit der europäischen Länder angesichts der heraufziehenden Stürme vorstellt. Laqueur, dessen Familie im Holocaust ermordet wurde, nimmt den Leser mit auf eine anregende Bildungsreise durch das turbulente 20. Jahrhundert. Dabei stellt er die ihn prägenden Einflüsse in den Mittelpunkt - und provokante Thesen auf. Der Autor lebt heute in London, nachdem er lange Jahre in führender Stellung im Center of Strategic and International Studies in Washington war und als einer der Väter der Terrorismus-Forschung bekannt wurde.

Unvermeidlich werden nach seiner Ansicht die Konfrontationen mit Ländern werden, die in der Machtpolitik alles andere als zimperlich sind. Nachdem der alte Kontinent lange Zentrum der Weltpolitik gewesen war, läuft er nunmehr Gefahr, zum Spielball zu werden, schreibt er. Noch dürfte Europa in der Weltpolitik mehr Gewicht haben als etwa Lateinamerika, aber der Abstand werde schwinden. „Europa ist exponierter als Lateinamerika und wird unter stärkeren Druck geraten“, bilanziert der Autor in seinem Buch.

Vielleicht, so hofft er, könnte eine schwere Krise die Nationen Europas unter einer geschickten Führung zu der Einsicht bewegen, dass die alte Ordnung überholt und eine enge Kooperation zwingend erforderlich wird. Dorthin gibt es für ihn nur einen Weg: „Sie müssen nationale Interessen hintan stellen, wenn sie sich den letzten Rest von Einfluss auf die Weltpolitik erhalten wollen.“

Die politische Schwächung Europas liege auch darin begründet, dass eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Außenpolitik nach wie vor utopisch erscheint. Europa habe sich gescheut, Sanktionen zu verhängen, sei es angesichts massiver Menschenrechtsverstöße oder sei es zur Abwehr künftiger Gefahren. „Europa war außerstande, in Krisen außerhalb Europas zu intervenieren, und bewies seine Ohnmacht sogar bei Kriegen im eigenen Hinterhof.“ Denn, so schreibt Laqueur weiter, „ohne amerikanische Initiative und Unterstützung hätten die Europäer den Genoziden auf dem Balkan tatenlos zugesehen.“

Die meisten europäischen Länder haben nach seiner Meinung nicht einmal die Courage, sich zu ihrem Doppelspiel zu bekennen. Sie seien wohl für ein „politische Europa“, aber dies gelte nur soweit sie möglichst viel für ihr eigenes Land herausschlagen könnten.

Es gibt für Laqueur viele Beispiele, die Europa schwächen. So etwa seine Abhängigkeit von Erdöl und Gas aus Russland sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Schließlich würden rund 85 Prozent des Erdöls und Gases importiert. Unter diesen Bedingungen zweifelt er daran, dass eine unabhängige Außenpolitik entstehen könnte. Beträchtliche Anstrengungen seien nötig gewesen, um sich auf eine gemeinsame Energiepolitik zu einigen, aber die Resultate seien «mehr als dürftig». Als pikante Randerscheinung sieht der Autor, dass ein deutscher Ex-Bundeskanzler nach seiner Wahlniederlage unverzüglich in Putins Dienste trat - in Sachen Gasgeschäfte. Da es nach Laqueurs Einschätzung auch in wirtschaftlichen Fragen und denen der Agrarsubventionen keinen Fortschritt gibt, weil die unterschiedlichen nationalen Interessen überwiegen, kann von einem europäischen Einfluss und Gewicht in der Weltpolitik nicht mehr gesprochen werden.

Literaturangabe:

LAQUEUR, WALTER: Mein 20. Jahrhundert. Stationen eines politischen Lebens. Verlag Propyläen, Berlin 2009. 352 S., 22,90 €.

Weblink:

Propyläen Verlag


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