Von Thomas Strünkelnberg
Es gibt Bücher, da sorgt schon der Titel für Diskussionen. Ein Schutzengel für Hitler, doch nicht für Millionen von Opfern? In seinem neuen Buch „Ich war Hitlers Schutzengel“ malt Dieter Kühn aus, was geschehen wäre, wenn eines der Attentate auf den Diktator Erfolg gehabt hätte.
Was wäre, wenn man die Geschichte neu schreiben könnte? Dieter Kühn treibt die erzählerische Gratwanderung zwischen Dichtung und Wahrheit auf die Spitze: Adolf Hitler stirbt bei einem Attentat, und der Autor spielt in mehreren Varianten durch, was wohl die Folgen für Deutschland gewesen wären. Zu diesen Gedankenspielen gehört es, Hermann Göring zum Reichskanzler zu machen oder Erwin Rommel als Reichspräsidenten in der neuen Hauptstadt Köln residieren zu lassen.
Keine Sache für Historiker, aber für Schriftsteller faszinierend, eine brillante Spekulation über historische Wahrscheinlichkeiten.
Laut der ersten historischen Fiktion des Autors gelingt das Attentat, das Georg Elser im November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller auf Hitler verübte. Mit Hitler sterben beispielsweise Goebbels, Himmler und Bormann: Das System war enthauptet, schreibt Kühn. Bleibt Göring als Nachfolger, der nach der These des Autors vergleichsweise friedlich und in seiner Eitelkeit irgendwie operettenhaft zu einer Herrschaftsform zurückkehrt, die an die Kaiserzeit erinnert.
In einer anderen Variante stirbt Hitler 1943 beim Sprengstoffanschlag Henning von Tresckows auf das Flugzeug des Diktators. Himmler reißt zwar die Macht an sich, wird aber vom Militär gestürzt. Mit Hilfe der Briten, die sich ein deutsches Bollwerk gegen Stalins Sowjetarmeen wünschen, eine Hoffnung, an die sich der wahre Hitler in seinen letzten Tagen im Bunker unter der Reichskanzlei klammerte, wird Rommel neuer Reichspräsident. Und der versucht, an die Zeit vor dem Naziterror anzuknüpfen.
Natürlich ist es irgendwie müßig, über einen anderen Verlauf der Geschichte zu spekulieren oder gar davon zu träumen. Dennoch schafft es der Autor, seine Versionen der Geschichte auch dank des dokumentarisch knappen und etwas kargen Stils mit vielen kurzen Sätzen realistisch klingen zu lassen.
Weniger gelungen ist die Episode, in der sich der Schutzengel Hitlers, der sich in Konkurrenz zum Schutzauftrag der SS sieht, in einem Monolog zu rechtfertigen versucht: „Aber ich kann nicht alle Last auf mich allein nehmen! Dieses eine Leben, das ich wiederholt gerettet habe, ich weiß, ich weiß, es kostete Millionen Menschen das Leben. Aber da wird man wohl mal fragen dürfen: Wo sind denn die Schutzengel der Opfer geblieben?!“ Bei aller Berechtigung dieser Frage tut der Schutzengel doch die meiste Zeit genau das, was er weit von sich weist: „Theologisieren ist meine Sache nicht.“
Literaturangabe:
KÜHN, DIETER: Ich war Hitlers Schutzengel. Fiktionen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 206 S., 17,95 €.
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