Von Urs Heinz Aerni
LENZBURG (BLK) — Ein imposantes Schloss, eine kleine mittelalterliche Altstadt, eine große Justizvollzugsanstalt, viel Wald und ein wunderschönes Kulturhaus, so könnte man die Kleinstadt Lenzburg gerafft präsentieren. Natürlich hat der Ort viel mehr zu bieten, aber Literaturfreunde zog es vom 6. bis 7. Juni 2009 in die Stadt zwischen Zürich und Bern aus einem anderen Grund. Das Aargauer Literaturhaus mit Namen Müllerhaus feierte sein fünfjähriges Jubiläum.
Andreas Neeser, Schriftsteller und Leiter des Hauses, organisierte mit seinem Team an verschiedenen Orten in der Stadt Lesungen und Gespräche rund ums Gedruckte. Der Titel lautete nicht etwa „Lenzburg liest“, wie man es von anderen Städten kennt, sondern „Lenzburg — Ein Buch“. Der Besucher klappt Lenzburg auf — wenn man bei der Metapher bleiben will — durch das Entsteigen des Zuges und den Spaziergang Richtung Altstadt.
Hoch oben thront die Lenzburg und gibt der Stadt am Fuße des Berges nicht nur den Namen sondern eine optische Dominanz. Während Archäologen, Altertumsforscher und Historiker mit ihren Arbeiten nicht an Lenzburg vorbei kommen, interessieren sich Literaturwissenschaftler für die Umstände rund um die Jugendzeit von Frank Wedekind auf dem Schloss im 18. Jahrhundert oder für einen trommelnden Jungen, der Günter Grass zum Roman „Die Blechtrommel“ inspirierte.
Nun lud das Müllerhaus schreibende Zeitgenossen zum Jubiläum. Da war zum Beispiel Markus Ramseier, der in seinem Roman „Wie küsst man einen Engel?“ (Cosmos Verlag) von einer Hauptfigur erzählte, die sich mit 29 Jahren alle Zähne ziehen lässt. Die Lyrikerin Svenja Hermann widmete sich mit „Kindern“ wilden Gourmet-Geschichten und Gabriel Vetter bot Slam Poetry zusammen mit Simon Chen. Besuchte man noch die Lesungen von Jürg Amann zwischen Lust und Last des Lebens und Katja Lange-Müller über Berlin kurz nach der Wende, so muss festgehalten werden, dass keiner der Besucher mit seinen Interessen zu kurz gekommen ist.
Das Angebot im geografisch überschaubaren Raum beeindruckte. Die Germanistin Marina Kuoni führte das Publikum zu Wedekinds Spuren in Lenzburg und bestätigte immer wieder ihre Kompetenz in Sachen literarischer Geografie. Für weitere Höhepunkte sorgte die in Berlin lebende Stuttgarterin Sibylle Lewitscharoff mit der Lesung aus „Apostoloff“ (Suhrkamp Verlag). Die Präsentation ihres zu recht gerühmten neuen Romans verzückte alle, die Esprit, Ironie und herausragende Wortarchitektur schätzen. Sie war Stipendiatin im Müllerhaus und genoss sichtlich die Begeisterung in der Schweiz, die sich durch Einladungen und Auszeichnungen wie dem Walliser Spycherpreis manifestieren. Ehemaliger Stipendiat Alois Hotschnig aus Innsbruck las den hier geschriebenen Text vor, der von einem beißenden Karl handelt, dessen Schnauze gar heilende Kräfte zugesprochen wurde und die Leute zum Gebissenwerden anstehen ließ.
Nun, wenn man in Zürich den Zug nach Bern oder Solothurn besteigt, dann sollte man darauf achten, dass dieser in Lenzburg hält.