Von Ulrike Cordes
Hamburg (BLK) – Aus der Ferne tönt Rummelplatzmusik. Unablässig dreht sich auf der sonst nackten Bühne ein schäbiges, zylinderförmiges Ungetüm, das ein Karussell in sich bergen könnte. Als sich seine Wände öffnen, zeigt es sich jedoch leer. Nackt und leer wirken auch die Menschen, die sich hierher – auf das Münchner Oktoberfest – verirrt haben: Anstatt sich zu amüsieren, sehen diese seelisch Deformierten hoffnungslos zu, wie sich ihre Beziehungen auflösen, wie jeder von ihnen versucht, neue Verbindungen herzustellen. Leise und schlicht erzählt Stephan Kimmig am Hamburger Thalia-Theater Ödön von Horváths Geschichte von „Kasimir und Karoline“ (1932), zwei einfachen Menschen, deren Liebe im Strudel der damaligen Weltwirtschaftskrise untergeht. Für ihre eindringliche Deutung erhielten Regisseur und Ensemble am Samstagabend (1. November) viel Premierenbeifall.
„Nehmen wir an, Sie lieben einen Mann. Und nehmen wir weiter an, dieser Mann wird arbeitslos. Dann lässt die Liebe nach, und zwar automatisch“: Der Zuschneider Schürzinger (Norman Hacker), der ein Auge auf die Angestellte Karoline (Paula Dombrowski) geworfen hat, analysiert deren Verhältnis zum gerade „abgebauten“ Chauffeur Kasimir (Peter Molzen) – und bringt damit das Anliegen des bis heute viel aufgeführten Autors Horváth auf den Punkt. Die Abhängigkeit der „kleinen Leute“ vom ökonomischen System, ihre Entfremdung von sich selbst und anderen schildert der österreichisch-ungarische Dramatiker (1901-1938) auch im vierten seiner bitteren Volksstücke.
Der auf zwei Stunden gekürzte Theaterabend wird erweisen, wie die lebenshungrige junge Karoline erst mit Schürzinger, dann mit seinem reichen Chef Rauch (Stephan Schad) anbändelt, um dann doch mit Schürzinger Vorlieb zu nehmen. Kasimir, der beider Trennung prophezeit hatte, bleibt am Ende nur übrig, mit Erna (Susanne Wolf), der Freundin des brutalen Kriminellen Merkl Franz (Daniel Hoevels), die halb ausgetrunkenen Bierkrüge einzusammeln und sich vom Rummel zu trollen. Glück sieht anders aus.
Wie beiläufig lässt Kimmig ein zeitloses, bei aller erdenschweren Traurigkeit seltsam komisches Beziehungsdrama spielen. Die floskel- und zitatreichen Dialoge, in denen Horváth seine Figuren charakterisiert, sprechen die äußerst intensiven Darsteller oft leiernd und gequält. Einen motzigen Ton schlägt dabei Dombrowskis mädchenhaft zarte, sehnsuchtsgetriebene Karoline an: Sie fühlt sich von Kasimir im Stich gelassen – und ist allzu bereit, sich wahllos auf neue Kontakte einzulassen, denn sie ist „eine Frau, die wo was erreichen will im Leben“. In der Hamburger Inszenierung trifft sie auf einen unbedarft-biederen, verdeckt egoistischen Zuschneider im orangefarbenen Anorak und auf einen Kapitalisten in Siegerpose mit Kaschmirpullover über den Macho-Schultern – Letzterer, Rauch, nur eine Karikatur seiner sozialen Klasse.
Verloren rennen die Personen über die (von Katja Haß geschaffene) Bühne, gepeinigt wälzen sie sich auf dem Boden. Doch auch, wenn sie beieinander stehen, sind sie sich selbst und einander nicht nahe: So sehnt sich die trotzige Erna danach, von Kasimir geliebt zu werden („ich glaube, wir sind verwandt“) – doch als der sie wie auf Anordnung steif umarmt, geht sein Blick ins Leere und sie muss sich verrenken, um ihren Kopf an ihn anlehnen zu können.
Immer wieder lässt der renommierte, für seine „Maria Stuart“ am Thalia-Theater (2007) mit dem Theaterpreis „Faust“ bedachte Regisseur große Stille zwischen den Rummelplatz-Besuchern zu – der Zuschauer ist aufgefordert, deren Gefühlen selbst nachzuspüren. Dabei tritt all das innerlich Tote, Haltlose subtil zu Tage: Auch Kasimir und Karoline bleiben im Kern verstummt, wenn sie einander gelegentlich begegnen. Wie Hohn klingen da die Lieder, die Elli (Anna Steffens) und Maria (Sandra Flubacher) ihnen singen: „Schöne Nacht, du Liebesnacht“ oder auch „Für mich soll's rote Rosen regnen“ raunt es aus den geschminkten Mündern der beiden Mädchen, die über das Oktoberfest geistern, um ihre Körper für zehn Mark zu verkaufen.