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Scheiternde Helden

Serhij Zhadans „Hymne der demokratischen Jugend“

© Die Berliner Literaturkritik, 27.11.09

FRANKFURT/MAIN (BLK) – Serhij Zhadans „Hymne der demokratischen Jugend“ ist im August 2009 im Suhrkamp Verlag erschienen. Juri Durkot und Sabine Stör haben das Buch gemeinsam aus dem Ukrainischen übersetzt.

Klappentext: San Sanytsch, ein Ringkämpfer mit Abitur, schließt sich den „Boxern für Gerechtigkeit und soziale Adaption“ an, die als Wachschutzbrigade die Märkte beim Traktorenwerk kontrollieren. Nachdem er beim Testen einer kugelsicheren Weste fast umkommen wäre, tut er sich mit Goga zusammen, einem früheren Klassenkameraden, der aus dem Tschetschenienkrieg zurückgekehrt ist und vom eigenen Club träumt. In einem heruntergekommenen Sandwichladen namens „Butterbrot-Bar“ eröffnen die beiden den ersten Schwulenklub der Stadt. Seit einigen Jahren wimmelt es in der ostukrainischen Metropole Charkiw von Leuten mit ausgefallenen Geschäftsideen und dem Gespür für Marktlücken. Die einen gründen die Bestattungsfirma „House of the Dead“ und blamieren sich mit ihrer Power-Point-Präsentation in Budapest. Andere widmen sich den „Besonderheiten des Organschmuggels“ und handeln an der EU-Außengrenze mit Visa und Prostituierten. Wie in Depeche Mode zieht Serhij Zhadan alle Register seines Könnens, um in sechs witzigen, temporeichen Episoden ein paar Helden der Transformationszeit zu schildern - Mitspieler in einer Gesellschaft, die sie bald wieder ausspucken wird.

Serhij Zhadan kam 1974 im Industriegebiet Luhansk/Ukraine zur Welt. Er studierte Germanistik und schrieb seine Doktorarbeit über den ukrainischen Futurismus. Zhadan lebt heute in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine und gehört dort zu den prägenden Figuren der jungen Szene. Er hat zahlreiche Lyrikbände veröffentlicht, sein Roman „Depeche Mode“ ist 2007 auf Deutsch erschienen. Bereits 2006 erhielt Zhadan den Hubert-Burda-Preis für junge Lyrik. (kum)

Leseprobe:

©Suhrkamp Verlag©

Inhaber des besten Schwulenklubs der Stadt Wer echte Verzweiflung kennt, wird mich verstehen. Eines Morgens wachst du auf und merkst, es steht schlecht, sehr schlecht. Eben noch, sagen wir gestern, hättest du etwas ändern, es richten, die Weichen anders stellen können, aber jetzt ist finito – du bist raus und hast keinen Einfluß mehr auf die Ereignisse, die dich umflattern wie Leintücher. Genau so, hilflos, ausgestoßen und abgetrennt, fühlt man sich kurz vor dem Tod, wenn ich das Konzept Tod richtig verstehe – eigentlich hast du doch alles richtig gemacht, alles unter Kontrolle gehabt, warum versucht man dann aber, dich von den roten Kabelrollen des Systems abzukoppeln, dich zu löschen wie eine Datei und auszubrennen wie einen subkutanen Eiterherd, warum verzieht sich das Leben, an dem du gerade noch unmittelbar teilgenommen hast, wie das Meer in östliche Richtung, eilig entfernt es sich, und zurück bleibt die Sonne deines langsamen Sterbens. Wie ungerecht der Tod ist, läßt dich das Leben besonders deutlich spüren, keiner kann dich davon überzeugen, daß dein Übertritt auf das Territorium der Toten Sinn macht, da fehlen einfach die Argumente. Aber es steht schlecht, plötzlich glaubst du das auch, hast es verinnerlicht und wirst ganz ruhig, läßt zu, daß irgendwelche Scharlatane, Alchimisten und Pathologen dein Herz herausreißen und es auf Jahrmärkten und in Raritätenkabinetten zur Schau stellen, läßt zu, dass sie es für zweifelhafte Experimente und freudlose Rituale heimlich mit sich herumtragen, läßt zu, daß sie von dir wie von einem Toten sprechen und dein Herz – schwarz von verlorener Liebe, leichten Drogen und falscher Ernährung – in ihren Raucherfingern drehen.

Dahinter stehen die Tränen, die Nerven und die Liebe deiner Altersgenossen. Ja, Tränen, Nerven und Liebe, denn alles Unglück und aller Ärger deiner Altersgenossen hat mit der Geschlechtsreife begonnen und war mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch beendet, und wenn irgendwas diese scharfen slawischen Zungen zum Schweigen bringen und die stark verrauchten Lungen zum Luftholen bewegen kann – dann Liebe und Ökonomie, Business und Leidenschaft in ihren absurdesten Erscheinungsformen; alles andere bleibt abseits der Strömung, außerhalb des dunklen, wilden Flusses, in den ihr alle springt, kaum daß ihr volljährig seid. Der Rest ist Bodensatz, Blasen auf dem Wasser, Fußnoten zur Biographie, er löst sich in Sauerstoff auf, und auch wenn Sauerstoff dir lebensnotwendig erscheint, er ist es gar nicht. Warum? Weil keiner an Sauerstoffmangel stirbt, sterben tut man aus Mangel an Liebe oder Mangel an Geld. Wenn du eines Tages aufwachst und merkst, alles steht schlecht, sie ist weg, gestern noch hättest du sie aufhalten, alles richten können, jetzt ist es zu spät, du bleibst allein mit dir, und sie kommt die nächsten fünfzig Jahre nicht wieder oder auch sechzig, je nachdem, wie lange du ohne sie leben kannst und willst. Als dir das bewußt wird, schlägt große, grenzenlose Verzweiflung über dir zusammen, der Schweiß purzelt auf deine unselige Haut wie Zirkusclowns in die Manege, das Gedächtnis verweigert dir die Gefolgschaft, obwohl man auch daran nicht stirbt, im Gegenteil – alle Hähne öffnen sich, die Luken brechen, alles okay, sagst du, ich bin in Ordnung, ich schaff das schon, alles klar, immer schmerzhafter stößt du dich in der Leere, die sie im Raum zurückgelassen hat, in den Tunneln und Gängen aus Luft, die ihre Stimme einst füllte und in denen jetzt die Monster und Reptilien ihrer Abwesenheit hausen, alles okay, sagst du, ich schaff das, ich bin in Ordnung, daran ist noch keiner gestorben, noch eine Nacht, noch ein paar Stunden in diesem mit schwarzem Pfeffer und Glasscherben bestreuten Gelände, auf dem heißen, mit Kippen und Tabakbröseln vermischten Sand, in den Kleidern, die ihr gemeinsam getragen habt, unter dem Himmel, der jetzt dir allein gehört, du benutzt ihre Zahnbürste, nimmst ihre Handtücher mit ins Bett, hörst im Radio ihre Musik und singst an den besonders wichtigen Stellen mit – da, wo sie immer verstummte, singst du jetzt die Worte für sie, besonders wenn das Lied von Sachen handelt, die wichtig sind, wie zum Beispiel das Leben, oder dein Verhältnis zu deinen Eltern, oder vielleicht auch Religion. Was kann tragischer sein als dieses einsame Singen, manchmal unterbrochen von den neuesten Nachrichten, den letzten Neuigkeiten − so, wie die Lage ist, könnte jede neue Nachricht tatsächlich die letzte für dich sein.

©Suhrkamp Verlag©

Literaturangabe:

ZHADAN, SERHIJ: Hymne der demokratischen Jugend. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Juri Durkot und Sabine Stör. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009. 185 S., 19,80 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag


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