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„Ich muss zeichnen bis zur Raserei“ – Ernst Ludwig Kirchners „Meisterblätter“

Die ausgestellten Arbeiten zeigen Akte im Atelier und in freier Natur sowie intime Paare, Tanzszenen und Tänzer

Von: KLAUS HAMMER - © Die Berliner Literaturkritik, 04.07.08

 

Ernst Ludwig Kirchner, der sensibelste und zugleich eigenwilligste der „Brücke“-Künstler, hat sich primär als Zeichner verstanden: 165 Skizzenbücher haben sich allein im Kirchner-Nachlass erhalten, und in privaten wie öffentlichen Sammlungen sollen sich etwa 10.000 Zeichnungen, Aquarelle und Pastelle befinden. Sie dienten nicht nur als Studien und Skizzen für Gemälde, Druckgrafik wie auch Plastik, sondern besitzen durchaus autonomen Bildcharakter und gehören zum Besten, was im 20. Jahrhundert hervorgebracht wurde.

Das Berliner Brücke-Museum präsentiert anlässlich des 70. Todestages des 1938 im Schweizer Exil aus dem Leben geschiedenen Künstlers 100 der schönsten Zeichnungen von 1906 bis 1937 aus seinem Kirchner-Bestand (bis 31. August). Auf Aquarelle wurde verzichtet. Fortgesetzt wird dann diese Ausstellung im Rahmen des Kirchner-Jubiläums durch „Farbige Druckgraphik“ und „Kirchner in Berlin“. Allein 230 Kirchner-Blätter nennt das Brücke-Museum sein eigen. 1999 konnte die Sammlung Karlheinz Gabler mit 118 exquisiten Blättern erworben werden und zum Auftakt dieser Ausstellung überreichte Günther Ketterer namens der Roman-Norbert-Ketterer-Stiftung 6 Zeichnungen aus der Schweizer Zeit dem Museum als Geschenk. Das unterstreicht den Rang des Brücke-Museums, dessen Kirchner-Bestand der umfangreichste aller öffentlichen Sammlungen ist und sogar noch vor dem des Davoser Kirchner-Museums zu nennen ist.

Der Katalog zu dieser Ausstellung, herausgegeben von Magdalena M. Moeller, der Direktorin des Brücke-Museums, enthält Aufsätze zu Kirchners Zeichnungen (Magdalena M. Moeller), zum Zeichner Kirchner (Wolfgang Henze), zu Kirchners Selbstbildnissen (Katharina Henkel), zu Kirchners Interieurzeichnung an der Schnittstelle zwischen Kunsthandwerk, Photographie und Malerei (Hanna Strzoda) und die Abbildungen aller in der Ausstellung gezeigten Werke nebst Biographie, Ausstellungsverzeichnis und Literaturhinweisen. Die ausgestellten Arbeiten aus den drei Lebensstationen Dresden, Berlin und Davos zeigen Akte im Atelier und in freier Natur sowie intime Paare, Tanzszenen und Tänzer, dazu eine große Zahl nahezu abstrakter Bewegungsstudien, exotische Menschen der Völkerschauen, Reise-Impressionen, Landschaften und Interieurs, Stadtlandschaften und Vorortstraßen, Strand- und Straßenszenen, Zirkus und Varieté, Theater und Konzertcafé, schließlich Bewohner und Landschaften der Schweizer Bergwelt. Unter den zahlreichen Bildnissen findet man Selbstbildnisse, die jungen Mädchen Fränzi und Marzella und der „Brücke“-Kollege Erich Heckel, Kirchners Lebensgefährtin Erna und deren Schwester Gerda, die beide Tänzerinnen waren, der Jenaer Archäologie-Professor Botho Graef, die Malerin Nele van de Velde, die Tochter des berühmten Architekten Henry van de Velde. Die stilistische Vielfalt der Zeichnungen ist verblüffend. Sie reicht von der für die Dresdner Jahre typischen, kompakten Fülle der Strichlagen, dem zumeist mit Tuschfeder erzeugten neoimpressionistischen Duktus mit starken Hell-Dunkel-Wirkungen über eine stärkere Linearität zunächst mit weichen und dann mit harten, kantigen Formen bis zur knappen, straffen Sprache und zu den schon Schraffuren enthaltenen Konturen der Berliner Zeit. Als das beherrschende kompositorische Prinzip erscheinen hier Kontrast und Spannung in der Abfolge von Hell und Dunkel, von Hoch- und Querformat, Kompaktem und Fragilem, Akten und bekleideten Personen, Gruppen und Einzelfiguren, Landschaft und Interieur, detailreich ausformulierten Ansichten und knappen, nahezu abstrakten Bewegungsstudien. Dieses Reservoir an Zeichnungen hat Kirchner wohl als „Form- und Ideenspeicher“ gedient, es sollte ihm die thematische Breite und gestalterische Vitalität vergegenwärtigen, ihn immer wieder zum „Neuschaffen früherer Erlebnisse“ anregen.

Dresdener Stadtlandschaften und weibliche Akte stehen am Anfang einer langen Reihe von Zeichnungen aus der Dresdener Zeit. Die Mädchenkörper haben weich fließende Konturen, sind besonders flächig gezeichnet. 1909 werden sie immer strenger in der Kontur, die durchlaufende Linie wird disziplinierter. Im "Hockenden Mädchenakt" von 1909/10 wird der einzelne Strich kräftig und schnell gesetzt, der durchgehende Linienfluss aufgegeben; die Zeichnung ist jetzt spröder, eckiger geworden. Bei den Dresdener Stadtmotiven interessierten Kirchner perspektivische Überschneidungen, räumliche Verschiebungen, Drauf- und Seitenansichten. Durch eine vehemente Linienführung wollte er den Betrachter suggestiv ins Bild einbeziehen. Steht in den Akten vom Sommer 1911 an den Moritzburger Seen der Mensch in harmonischem Gleichklang mit der Natur, werden die Akte vom Fehmarn-Sommer 1913 völlig der bizarr verzweigten Vegetation untergeordnet.

Tanz- und Varietészenen vom Winter 1910 in rhythmischem Stakkato deuten dann schon die nervöse Hektik der Grosstadtszenen an, die Kirchner nach der Übersiedlung nach Berlin (1911) schuf. „Straßenszene“ (1913/14), „Straßenszene mit grüner Dame“ (1914), „Potsdamer Platz“ (1914) mit ihren ausschnitthaften Darstellungen lassen das Verhältnis von Einzelfigur und anonymer Masse hervortreten, vermitteln aber auch Atmosphärisches aus dem Halbweltmilieu. Die Linie ist mit Energie und Dynamik, geradezu mit Elektrizität geladen. Die gesamte Fläche wird in die Gestaltung einbezogen und lebt im Rhythmus der konzentrierten Strichlagen. Kirchner erfand 1910 Bildzeichen, summarische Strichgebilde, stieß zu immer schroffeneren Formen vor, gelangte vom weichen zum harten Stil.

1917 kam Kirchner krank und zerrüttet nach Davos. Der Zeichenstil der folgenden Zeit ist von höchster Nervosität und Bewegtheit geprägt. Auf das Porträt eines Almbewohners („Alter Bauer“, 1917) kann man die Worte Will Grohmanns, des Verfassers der ersten Kirchner-Monographie (1925) beziehen, dass die Physiognomie des Porträtierten eine „geradezu landschaftliche Verwitterung“ erreicht habe – voll expressiver Verinnerlichung. Mit kurzen, dichten, feinnervigen Schnitten wird ein „Blick unter die Haut“, ins Innerste der Psyche suggeriert. Im freien Spiel der Farben und Formen dramatisiert Kirchner die Bergwelt als rhythmisch schwingende Alpenkulisse („Tinzenhorn“, 1919). In den 1921 wieder auflebenden Akten in freier Natur drückt der faserige Kontur das Tänzerische der Bewegung aus. Ende der zwanziger Jahre nehmen abstrakte Tendenzen zu. „Wigman-Tanz“ (1932/33) vereinigt mehrere zeitliche Bewegungsphasen und räumliche Ansichten in einem Bild.

„Meine Form entsteht so, dass ich in der Ekstase des Erlebens in der Skizze neue Formgestalt finde, die im Bild kristallisiert und fest wird“, notierte Kirchner 1928 in sein Davoser Tagebuch. Diese feste Form nannte er „Hieroglyphen“, von der Naturform abstrahierte Kunstformen. Während vorher die Ekstase vor dem Objekt das auslösende Moment für das Zeichnen war, sollte jetzt die aus der Phantasie gezeichnete Linie nachträglich mit Ekstase aufgeladen werden. Aber das vitale Welterleben der früheren Zeichnungen hat er nicht mehr erreicht. Dennoch bleibt er – da ist sich die Kirchner-Forschung einig – der wohl bedeutendste Zeichner der Moderne.

Literaturangaben:
KIRCHNER, ERNST LUDWIG: Meisterblätter. Zeichnungen aus dem Brücke Museum Berlin. Herausgegeben von Magdalena M. Moeller. Brücke Museum Berlin / Hirmer Verlag, München 2008. 204 S., 34,90 €.

Verlag

Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, schreibt als freier Buchkritiker für dieses Literaturmagazin. Er ist als Gastprofessor in Polen tätig


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