MÜNCHEN (BLK) – Der Reportagenband „Der entfesselte Globus“ von Ilija Trojanow ist jetzt im Carl Hanser Verlag erschienen. Neugierig, aufmerksam und unersättlich sei er über den Globus gestreift und erzähle nun von seinen Erlebnissen, meint der Verlag.
Klappentext: Trojanow ist auf allen Kontinenten zu Hause. Was Trojanow zu berichten hat, geht weit über die Schönheit der Landschaften oder die Fremdheit der Sitten hinaus. Er erzählt, wie die Menschen leben: in dem nicht zur Ruhe kommenden Afrika, in den alle Vorstellungen sprengenden Megacitys Indiens oder in anderen Ländern Asiens, die von Naturkatastrophen heimgesucht und von politischen Umwälzungen bedroht werden. Aber auch Bulgarien, das Land seiner Geburt, nimmt dieser geborene Reisende unter die Lupe - seine Schilderungen der alten Seilschaften in neuer Verkleidung lesen sich wie moderne europäische Gruselgeschichten. Neugierig, offen, kritisch und selbstkritisch - mit dem Autor vom „Weltensammler“ als Cicerone sieht man die Welt in einem anderen Licht.
Ilija Trojanow wurde 1965 in Sofia geboren. Nach der Flucht mit der Familie über Jugoslawien nach Italien erhielt er politisches Asyl in Deutschland. Er lebte zehn Jahre in Kenia und gründete 1989 den Kyrill & Method Verlag und 1992 den Marino Verlag in München. Er veröffentlichte „In Afrika“ (1993), „Naturwunder Ostafrika“ (1994), „Hüter der Sonne“ (1996) und „Hundezeiten“ (1999). (tan/dan)
Leseprobe:
© Carl Hanser Verlag ©
Bombay Revisited
Bombay. Juni 2006
Es war ein schlimmer Monsun dieses Jahr. Zuerst regnete es einen Tag und eine Nacht lang, bis das Wasser nicht mehr abfließen konnte und derweil die Meeresflut anstieg auf den höchsten Pegelstand seit langem. Bombay wurde von oben und von unten überschwemmt, das Wasser sammelte sich in den Flächen, die dem Meer entrissen worden sind, in den Senken zwischen den Erhebungen, in den einstigen Lagunen zwischen den sieben Inseln (Mythen sind nicht nur auf Hügeln erbaut). Das Geschäftsleben setzte einige Schläge aus, Straßen wurden zu Kanälen, hunderttausende von Angestellten wateten knietief in Trübsal nach Hause, weil die Eisenbahnen, die das kommerzielle Herz im Süden mit dem Rest der Stadt verbinden, ausfallen, wenn die Gleise mehr als zwölf Zentimeter unter Wasser liegen. Jede überschwemmte Stadt ist ein unvergeßlicher Anblick – Bombay unter Wasser ist wie von einem Hieronymus Bosch auf Acid gemalt. Die Tempel schließen ihre Tore, um den gurgelnden Gebeten zu entkommen, Erdrutsche begraben Hütten und Werkstätten, Unglückselige werden von offenen Gullys verschlungen; auf den Dächern der Taxis hocken gestrandete Fahrer und starren in die dunklen Fluten wie kurzsichtige Reiher.
Bombay hatte kaum Zeit, sich von der Sintflut zu erholen, da verbreitete sich die Nachricht, am Stadtrand protestierten wütende Moslems, weil eine Chowki (kleine Station) der Polizei auf einem ihrer Friedhöfe erbaut werden sollte. Die Polizisten schossen in die Menge und trafen zwei Männer tödlich. Am Abend desselben Tages, etwa um 9.30 Uhr, rutschte das Motorrad zweier Polizisten auf nasser Straße aus, und ein aufgebrachter Mob bewarf die Polizisten mit Steinen und stach auf sie ein, bis sie tot waren. Die Polizei behauptete, kriminelle Kräfte wehrten sich gegen eine stärkere Präsenz der Ordnungshüter, moslemische Organisationen monierten, daß die Behörden ihr Anliegen nicht angehört und keine einvernehmliche Lösung angestrebt hätten. Drei Tage später besudelten Unbekannte das Denkmal der verstorbenen Ehefrau von Bal Thakeray, verschmierten ihr Gesicht mit Schlamm. Der beleidigte Witwer, ein ehemaliger Karikaturist, ein Meister der Überzeichnung also, der selbst überlebensgroß auftritt als Mann des Volkes im Überwurf des historischen Auftrags, die Hindu-Nation zu retten, ließ seinen goondas freien Lauf. Die Handlanger der Shiv Sena-Partei stürmten auf die Straße, zündeten Fahrzeuge an, erzwangen die Schließung aller Läden, und Bombay mußte wieder einmal stöhnend Kenntnis nehmen von dem alternden Regenten Bal Thakeray, dem die Macht zunehmend entgleitet
Und dann, zwei Tage später – zwischen 6.24 und 6.31 am Abend – explodierten sieben Bomben innerhalb von sieben Minuten an sieben Stationen der Western Railway Line und zerfetzten die Erste-Klasse-Abteile, in denen sie gelegt worden waren, um die professionelle Elite zu treffen. Die viertausend Passagiere, die zu dieser Tageszeit in einem Nahverkehrszug zusammengepfercht sind, taumelten auf die Gleise, zerrten mit bloßen Händen an dem grotesk verbogenen Metall der Waggons, um die vielen Verletzten zu bergen, saßen verloren blutend auf den Bänken. Die zuständige RPF (Railway Police Force) war überfordert: sie verfügte über keine Erste-Hilfe-Kästen und wußte nicht einmal die Telefonnummern der nahe gelegenen Krankenhäuser. Es starben mehr als 200 Menschen an diesem Tag, doch was die Bewohner Bombays tiefer traf als die Trauer um ihre Mitbürger, war die Verunsicherung, ob das fragile Gleichgewicht ihrer Stadt kippen würde. Könnten solche Bombenanschläge die gewachsene Hybridität, die schier unendliche Bandbreite der Schattierungen, die Bombay in sich trägt, zermalmen? Drei Bücher, die dieser Tage auf Deutsch erscheinen, geben Antwort auf diese Frage, indem sie Bombay möglichst umfassend einzufangen versuchen, und bemerkenswerterweise gelingt dieses vermessene Vorhaben den indischen Autoren Vikram Chandra, Suketu Mehta und Altaf Tyrewalla, auch wenn sie schließlich – sei es in sprachlicher, analytischer oder inhaltlicher Hinsicht – vor diesem Moloch doch in die Knie gehen.
© Carl Hanser Verlag ©
Literaturangaben:
TROJANOW, ILIJA: Der entfesselte Globus. Reportagen. Carl Hanser Verlag, München 2007. 200 S., 17,90 €.
Verlag