„Ich liebe es, mich an freudige Ereignisse zu erinnern, und bin deshalb völlig mit denen einverstanden, die behaupten, dass Erinnerungen die Vergangenheit mit einem goldenen Pinsel übermalen.“
Solch einen Pinsel hat der Althistoriker Zvi Yavetz benutzt, um seine Kindheit in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, zu „übermalen“, wo er 1925 geboren wurde. Sie zählte um 1931 wenig über hunderttausend Einwohner, von denen siebenundvierzig Prozent Juden waren, den Rest bildeten bereits im 18. Jahrhundert eingewanderte Deutsche, die dort „Schwaben“ hießen, obwohl die wenigsten aus dem alemannischen Raum gekommen waren. Außerdem gab es Rumänen, Ruthenen (Weißrussen) und Russen. Völkerrechtlich gehörte die Bukowina nach der Zerschlagung des k.u.k. Kaiserreichs 1919 zu Rumänien.
Vielvölkergemisch
Zvi Yavetz wäre nicht der berühmte Historiker, dem wir bedeutende Bücher zur römischen Geschichte verdanken (darunter auch eine Biografie des „traurigen Kaisers“ Tiberius), begänne er seine „Erinnerungen an Czernowitz“ nicht mit einem kurzen Abriss der wechselvollen Geschichte des Landstrichs. Lange hatte er zum Osmanischen Reich gehört, 1774 kam er wie Galizien zu Österreich, wurde zum äußersten südöstlichen Vorposten des Kaiserreichs, in den man mit Vorliebe Offiziere schickte, die in der Heimat nicht gut getan hatten. (Man kann das bei Joseph Roth und Arthur Schnitzler nachlesen.)
Gleichwohl erlebte Czernowitz damals seine große Zeit, es gab Kleinindustrie, eine fruchtbare Umgebung, deren landwirtschaftliche Produkte dort verarbeitet wurden, es gab ein Theater, mehrere höhere Schulen, Zeitungen und Kinos, ein wohlbehägliches Bürgertum – und viele arme Leute, zu denen auch die meisten Juden gehörten. Man sprach das „Czernowitzer Deutsch“, österreichisch gefärbt und mit vielen jiddischen Worten unterfüttert, die gebildeten Juden (eine beachtliche Oberschicht) konnten Hebräisch lesen (seltener sprechen), in den unteren Klassen wurde Ruthenisch gesprochen und als die Bukowina 1919 Rumänien zugeschlagen wurde (das nördlich gelegene Galizien kam zu Polen), begann ein strikter Rumänisierungskurs, der die Schulausbildung und die Amtssprache betraf.
Je nachdem ob die Regierung in Bukarest gerade „liberal“ war oder nationalistisch, gehörte es zu den Maßnahmen der neuen Herrschaft, sich mehr oder weniger antisemitisch zu geben, meist mehr. 1940/41 kam das Gebiet unter sowjetische Verwaltung (die viele Juden nach Sibirien abtransportierte), nach der Wiedereroberung durch die Deutschen wurden die meisten Juden in Vernichtungslager abtransportiert. Heute gehört die Bukowina zur Ukraine. Vom ehemaligen Vielvölkergemisch ist so wenig übrig geblieben, wie von dem kulturellen Schmelztiegel.
Am Rande von Alteuropa
Czernowitz ist Vergangenheit, die wenigen übrig gebliebenen Juden leben heute in Israel, den USA, Australien. Manche erinnern sich immer noch vage noch an die Dichter und Musiker von damals, haben nicht vergessen, dass Rose Ausländer und Paul Celan dort geboren wurden. Die „Zerstreuung“ hat auch Yavetz’ Familie getroffen. Einige von seinen Verwandten wurden nach Sibirien deportiert, andere sind in den rumänischen und deutschen „Lagern“ ermordet worden, einige wenige, wie Yavetz selbst, konnten entkommen. „Die sowjetische NKWD, die rumänischen Truppen und die Gestapo haben ihre Schuldigkeit getan.“ Doch Yavetz hat darauf verzichtet, seine eigene Flucht zu schildern (wie das jüngst der Berliner Arzt Anatol Gotfryd aus Galizien in seinem schönen Buch „Der Himmel in den Pfützen“ getan hat.)
Nach dem historischen Abriss beginnt er von dem Kind zu erzählen, das er war, viel Anekdotisches, immer wieder von kleinen Exkursen über Zeitumstände unterbrochen. Er weiß Begebenheiten farbig zu schildern, die sich seinem Gedächtnis eingeprägt haben. Vor allem aber gelingt es ihm in sehr genauen, sehr liebevollen Porträts, seine nächsten Verwandten zu konterfeien: die starke, gebildete Mutter, die beiden Großväter und eine grandios gemalte Großmutter, einige der Onkel und Tanten, einige Mitschüler (die freilich weitaus weniger Kontur gewinnen.) Das oft schwere Leben, das antisemitische Klima der rumänischen Jahre, vor allem aber das Jahr 1937, als sich alles Spätere schon ankündigte, ohne dass die Czernowitzer Juden es hätten wahrhaben wollen, wird anschaulich. Aber auch die unschuldigen Vergnügungen des Jungen, der, nachdem er eine Kinderlähmung überstanden hatte, besonders gehätschelt wurde. So wussten unsere Altvorderen zu erzählen, die, die ihren Kindern und Enkeln etwas vor dem Schlafengehen vorzulesen pflegten.
Zvi Yavetz gehört im Grunde noch zu jenem „Alteuropa“, das bereits untergegangen war, als er geboren wurde. An den Rändern halten sich alte Traditionen und Lebensweisen länger. Doch auch die Brüche zeigen sich: so unter den Juden von Czernowitz, wo sich in der Gemeinde Zionisten und „Bundisten“ stritten, Liberale, Orthodoxe verschiedener Schulen befehdeten. Nur dass es schrecklich enden könnte, das wollte kaum einer von ihnen wahrhaben: Man war ja Pogrome gewöhnt.
„Nathan der Weise“ zu Gast in Czernowitz
Diese Jugendgeschichte ist bewegend zu lesen. Wären die Zeiten nicht so böse gewesen, man könnte diesen ersten Teil des Buchs wirklich „Besonnte Vergangenheit“ nennen, wie ein im 19. Jahrhundert beliebtes Buch hieß.
Aber die Zeiten waren eben nicht danach. So wird Yavetz im zweiten Teil wieder zum Historiker, berichtet von „Alltag und Kultur im Czernowitz der ersten und zweiten Hälfte des Jahres 1937“, zitiert aus Zeitungen, erwähnt die kulturellen Ereignisse. Etwa dass Albert Bassermann mit „Nathan der Weise“ aus Wien in der kleinen Stadt gastierte, andere Bühnenschauspieler wie Attila Hörbiger und Paula Wessely nach Czernowitz kamen, die Kinos deutsche und amerikanische Melodramen zeigten, Erwachsene für Zarah Leander und Kinder wie Yavetz für Shirley Temple schwärmten. Der junge Zvi wurde so rigoros zum Lernen angehalten, dass er des Hebräischen mächtig war, natürlich auch des Deutschen und des Rumänischen. Ruthenisch lernte er vom Dienstpersonal und den Fuhrkutschern, Französisch und Latein in einer privaten Elementarschule und auf dem rumänischen Gymnasium.
Mit diesen Erinnerungen hätten es der Autor und sein Verlag bewenden lassen sollen. Denn das folgende Kapitel über den Czernowitzer Humor ist so lustig nicht, wie es beiden vorgekommen sein mag. Jüdische Witze wirken, aufgeschrieben, eher kümmerlich. (Das war schon in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhundes so, als Salzia Landmann jene Sammlung Jüdischer Witze veröffentlichte, die Kenner der Materie mit dem Ausruf „Wai geschrie’n“ liquidierten.) Diese Witze sind allenfalls mündlich zu überliefern, und seit George Tabori den kürzesten erfand, nämlich „Auschwitz“ sind sie so tot wie die, die sie erzählten.
Auf nachtschwarzem Grund
Daran kann auch Yavetz nichts ändern. Auch das „Nachwort“ zu seinem Buch, das sich vor allem mit den Czernowitzer Zeitungen befasst, wäre in einer eigenen Veröffentlichung besser aufgehoben, zumal die spärlichen Anmerkungen nicht genügen, um diesen Text wirklich aufzuschlüsseln. Hier hätte der Verlag dem alten Historiker helfen müssen.
Gleichwohl ist auch dies Buch ein Zeugnis von der Art, die uns ein wenig besser begreifen lässt, was eigentlich unbegreiflich bleibt. Auch Zvi Yavetz „goldener Pinsel“ malt auf nachtschwarzem Grund.
Von Roland H. Wiegenstein
Literaturangaben:
YAVETZ, ZVI: Erinnerungen an Czwernowitz – Wo Menschen und Bücher lebten. C. H. Beck Verlag, München 2007. 255 S., 24,90 €.
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