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Inger Christensen – „Das gemalte Zimmer“ (Kleinheinrich und Bibliothek Suhrkamp)

© Die Berliner Literaturkritik, 02.04.09

 

Leseprobe: „Das gemalte Zimmer. Eine Erzählung aus Mantua“ von Inger Christensen

 

© Kleinheinrich Verlag © und © Bibliothek Suhrkamp ©

 

I. Marsilio Andreasis Tagebücher

Ausgewählte Stücke

 

 

1454

 

14. März

Jetzt, in dieser Stunde, beginnt die systematische Zerstörung meiner geliebten Nicolosia.

Jetzt wird sie auf die Folterbank der Ehe gelegt und gestreckt und gebeugt, bis sie eine passende Anzahl von Söhnen abgeworfen hat. Ich fasse es nicht.

Fasse nicht, daß derartige Veranstaltungen überhaupt als notwendig empfunden werden in einer Zeit, wo es so offenkundig in Mode gekommen ist, sich Mengen von unechten Kindern zuzulegen, nicht nur, um mit ihrer bloßen Existenz prahlen können, nein, wesentlich (auch), um auf Produkte von angemessener Qualität setzen zu können. Was eine ehrliche Sache ist. In bestimmten Phasen sogar eine idealistische und vernünftige Sache.

Fasse somit nicht die überhitzte Logik, die unter diesen Umständen ihre kranke Konsequenz darin sieht, die einzelne Frau gefangenzunehmen und sie in eine Sonderstellung einzusetzen, in so etwas wie ein lebensphilosophisches Zentrum, wo Geburt, Tod und Gewalt nach den überlieferten Rezepten des einfachsten Haushalts vermischt werden. Worauf das Gericht lebenspendend wie auch geheimnisvoll und gesund genannt wird. Arme Nicolosia! Väter werden wir ja ohnehin, falls wir uns überhaupt auf diesem Felde betätigen.

In meiner Verzweiflung habe ich zudem den Höchsten Vater, den Weltenberechner angerufen, in der Hoffnung, er möge in seiner Weisheit mit meiner Geliebten so kalkulieren, daß sie in ihrer aufgezwungenen Ehe außerstande ist, Söhne oder andere Kinder zu gebären.

Aber zuinnerst im Herzen bin ich in Zweifel: Warum sollte Er (als einziger) in seiner erhabenen Zerstreutheit die Hand über mich halten, einen zufälligen Sekretär? Er kann ja nicht wissen, daß dieser Sekretär in seinen müßigen Stunden Schriftsteller ist und als solcher in seinem eigentlichen Leben ein Schützling des Himmels.

Er kann es nicht wissen, weil ich mich niemals vorzeige.

Er kann erst recht nicht wissen, daß ich meine Gründe dafür habe, daß ich mit Mißbehagen die gegenwärtigen Zustände betrachte, wo jedenfalls jeder zweite Sekretär und bald jeder fünfte Jurist und Mediziner, dazu eine nicht geringe Anzahl von Schreinern und anderen vernünftigen Leuten auf unseren Märkten und Plätzen umherspringen und einander ihre gerade erst geschriebene Lyrik um die Nase schwenken.

Meine Haltung zu dieser ganzen Misere ist lange die gewesen, daß es zu spät ist, das Wort zu ergreifen, in dem Augenblick, wo Gott und die Welt immer (schon ) bloß reden und reden, als wir einander das erste Mal ansahen.

 

19. April

Das Frühjahr ist schrecklich. Der Mincio überflutet die Insel wie einen flachen Teller und hinterläßt darauf seine Ratten, seinen Schlamm und seine japsenden Fische. Mit solchen Mahlzeiten belohnt die Natur ihre treuen Pfleger und Verehrer.

Gestern kam Baldassare weinend von der Villa. Der Regen hat die blühenden Baumkronen zerfetzt, und es wird nicht genug Mandeln und Oliven geben. Was soll ein Grätner auf den Wogen der Sintflut, schrie er.

Ja, was soll ein Fischer in der Wüste? Oder ein Steinhauer im Himmel? Oder der Engel im Feuer der irdischen Gefühle, was soll er da?

 

19. April. Abends.

Am besten, sich nicht mehr Mensch nennen. Sondern im stillen zu sich selbst wie zu einer Sphinx sprechen, einer Maschine oder einem Mönch.

 

(...)

 

© Kleinheinrich Verlag © und © Bibliothek Suhrkamp ©

Literaturangaben:
CHRISTENSEN, INGER: Das gemalte Zimmer. Eine Erzählung aus Mantua. Übersetzt aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Das Gedicht „Lied an meinen Pfau“ hat Bernhard Glienke übertragen. Mit Radierungen von Per Kirkeby. Kleinheinrich Verlag, Münster 2008. 105 S., 30 €.
CHRISTENSEN, INGER: Das gemalte Zimmer. Eine Erzählung aus Mantua. Übersetzt aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Das Gedicht „Lied an meinen Pfau“ hat Bernhard Glienke übertragen. Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006. 106 S., 11,80 €.

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