Von Björn Hayer
So bewusst kafkaesk war Ingo Schulze wohl noch nie: Minutiös komponiert schildert er in seiner autobiographisch gefärbten Erzählung „Augusto, der Richter“ eine verhängnisvoll-surreale Nacht im Leben des gleichnamigen Protagonisten. Das unlautere Ereignis spielt in Rom, wo der Ich-Erzähler den Packer Augusto antrifft und diesen Einkaufstüten nach Hause tragen lässt.
Die eigentlich skurrile Dramaturgie entspinnt sich erst, als jener aus der Gosse stammende Junge sich zunehmend als gekonnter Geschichtenerzähler entpuppt. Zwischen Zigaretten und Kaffee, Taumel und Verstörung berichtet er von der befremdlichen Orgie der letzten Nacht, deren Verlauf so unfassbar wie phantastisch wirkt. Indem Augusto sich der Verführungskraft dreier Frauen hingibt, wird er selbst zum Objekt, dessen Freiheit nur noch scheinbar besteht: Er wird zum einsamen Richter ernannt, dessen Aufgabe darin besteht, auf einem künstlich anmutenden Ball die schlecht tanzenden Paare zu selektieren. Wer am Ende noch übrig bleibt, wird Teil einer ungehemmten Gewalt- und Sexorgie, in der Korruption, Gefahr und vor allem das Gefühl einer unüberwindbaren Gefangenschaft zum Tragen kommen.
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Die assoziative Nähe zu Schnitzlers „Traumnovelle“ und Kafkas „Prozess“ mit all seinen erotischen und beklemmenden Implikationen könnte anschaulicher kaum sein. Aber es geht um mehr: Schon am Anfang offenbart der Autor sein Konzept der Unvollendung: „Ich werde Ihnen nicht alles erzählen … ein paar Sachen behält man für sich.“
Genauso fragmentarisch bleibt der Erzähler, was den Sinn und das Ende seiner Geschichte betrifft. Und diese Komposition geht auf: Verweist seine Szenerie indirekt auf Kafkas Dunkelreich sowie dessen unvollendete Werke, entwirft Schulze einen höchst poetischen Bezugsrahmen zur Frage nach dem Erzählen selbst: Was macht eine Geschichte mit uns und worin besteht der spannungsgeladene Reiz des Unvollständigen?
Versehen mit traumspielerischen Skizzen von Peter Schnürpel hat Ingo Schulze eine verdichtete Welt des Zwielichts geschaffen und einmal mehr bewiesen: Er kann es einfach!
SCHULZE, INGO: Augusto, der Richter. Prestel Verlag, München 2010. 96 S., 25,00 €.