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Ins Gelobte Land

Von Galizien nach Amerika

© Die Berliner Literaturkritik, 26.01.11

Wien (BLK) – Im September 2010 erschien das Buch „Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien“ von Martin Pollack im Zsolnay Verlag.

Klappentext: Die Freiheitsstatue: Hunderttausende ließen sich um 1900 von diesem verlockenden Bild über den Ozean locken. Damals hatte in Galizien (heute Polen und Ukraine), dem Armenhaus der Habsburger-Monarchie, eine Welle der Emigration eingesetzt. Kleinbauern, Handwerker, jüdische „Luftmenschen“, sie alle suchten eine bessere Zukunft; der Kaiser von Amerika, meinten sie, werde sie nach ihrer Flucht freudig willkommen heißen. Aus dieser Hoffnung entwickelte sich rasch ein einträgliches Geschäft, an dem viele mitverdienten. Schlepper, Agenten, Menschenhändler und die Aussicht auf ein besseres Leben: Martin Pollack erzählt von Menschen, die um 1900 ihr Glück in den USA suchten.

Martin Pollack wurde 1944 in Bad Hall, Oberösterreich, geboren; studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte. Er ist Übersetzer u.a. von Ryszard Kapuściński, Mariusz Wilk, Daniel Odija. Bis 1998 Redakteur des Spiegel in Wien und Warschau. 2007 erhielt er den Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln. 2010 wurde er mit dem Georg-Dehio-Hauptpreis des Deutschen Kulturforums östliches Europa ausgezeichnet.

 

Leseprobe:

©Zsolnay Verlag©

 

Zur Auswanderung verführt

Am 27. März des Jahres 1888 werden in Stare Stawy, einer kleinen Ortschaft in Westgalizien, vier Slowaken von einer Gendarmeriepatrouille aufgegriffen. Stare Stawy liegt in der Nähe von Otwiecim, zu deutsch Auschwitz, nur wenige Kilometer von der preußischen Grenze entfernt.

Die Slowaken sind zu Fuß unterwegs. Anfangs schweigen sie auf alle Fragen und tun so, als verstünden sie kein Wort Polnisch, sie zucken bloß mit den Achseln und schütteln die Köpfe. Erst als ein Gendarm dem Jüngsten von ihnen, ein halbes Kind noch, ein paar Knüffe versetzt, rücken sie mit ihrer Geschichte heraus. Sie sagen, sie kommen aus dem Ungarischen, aus dem Weiler Brutovce im Komitat Zips, und wollen nach Amerika auswandern. Weil die vier außer dieser mageren Erklärung gemeinsam nur ein paar Gulden vorweisen können, werden sie nach Stare Stawy eskortiert und dort dem Gemeindevorsteher übergeben; er soll sie mit einem Schubpass an ihren Wohnort zurückschaffen lassen.

Doch ehe die Behörden den Rücktransport der mittellosen Schüblinge, wie solche Pechvögel in der Amtssprache heißen, in die Wege leiten können, gelingt es Mathias Komara, dreißig, Pál Popovic, achtzehn, Jan Virosztek, sechzehn, und Jakob Komara, vierzehn Jahre alt, sich aus dem Staub zu machen. Die sofort eingeleitete Suche bleibt erfolglos.

Das Aufgreifen und die anschließende Flucht der vier jungen Männer lösen hektische Aktivitäten und eine umfangreiche Korrespondenz zwischen den galizischen und ungarischen Behörden aus, als handle es sich nicht um harmlose Auswanderer, sondern um gefährliche Schwerverbrecher, die es unter allen Umständen dingfest zu machen gilt.

Zunächst meldet der Gemeindevorsteher von Stare Stawy den Vorfall an die vorgesetzte Behörde, die Bezirkshauptmannschaft in Biała. Die Slowaken haben nichts zurückgelassen außer drei Gulden, die dem Ältesten des Quartetts von den Gendarmen abgenommen wurden, die drei anderen hatten überhaupt kein Geld dabei. Das wenige Gepäck, das sie mit sich führten, einen mit einem Vorhängeschloss versperrten Holzkoffer und ein paar Bündel, haben sie auf der Flucht mitgenommen, doch darüber findet sich in der Meldung des Gemeindevorstehers nichts, als befürchte er, das könne ihm als Nachlässigkeit ausgelegt werden; schließlich hätte er zumindest die Gepäckstücke sicher verwahren müssen.

Einen Monat später richtet der Bezirkshauptmann von Biała ein Schreiben an das löbliche Stuhlrichteramt der Stadt Leutschau mit der Frage, ob die vier abgängigen Individuen in der Zwischenzeit wieder in ihrem Heimatort eingetroffen seien. Im amtlichen Schreiben wird der offizielle, ungarische, Name des Weilers, Brutócz, verwendet. Darüber hinaus werden die ungarischen Behörden ersucht zu klären, wer Mathias Komara und seinen jugendlichen Begleitern dabei geholfen habe, von Brutócz bis an die preußische Grenze zu gelangen. Allein wären die unerfahrenen Dörfler wohl kaum in der Lage gewesen, eine solche Reise zu unternehmen.

Die Behörden in Galizien haben den Vertreter einer Hamburger Emigrationsagentur in Otwiecim, einen gewissen Simon Herz, im Verdacht, hinter der Sache zu stecken. Er soll die Slowaken zur Auswanderung verführt haben, um ihnen Schiffskarten nach Amerika verkaufen zu können. Vielleicht hat Herz die vier nach ihrer Flucht aus Stare Stawy irgendwo getroffen und im Schutz der Dunkelheit über die nahe Grenze nach Preußen gebracht? Vom preußischen Grenzbahnhof Myslowitz ist es ein Leichtes, mit dem Zug nach Berlin zu fahren und von dort weiter nach Hamburg oder Bremen, in die beiden großen deutschen Auswandererhäfen.

Der Stuhlrichter von Leutschau beauftragt den Gemeindevorstand von Brutócz mit der Untersuchung der Angelegenheit; er soll die Angehörigen der Auswanderer befragen. Diese geben an, die Verwandten seien von einem Zipser Fuhrmann bis in die Nähe der preußischen Grenze gebracht worden, wo sie der k. k. Gendarmeriepatrouille in die Arme liefen, die Mathias Komara fünf Gulden abnahm. Zwei Gulden gaben ihm die Ordnungshüter zurück, drei lieferten sie in der Gemeinde ab. Das sind die drei Gulden, die später an die Bezirkshauptmannschaft in Biała geschickt wurden. So weit scheint alles seine Ordnung zu haben.

„Von weiterem ist nichts bekannt, nur so viel ist festgestellt, dass die Vorgenannten alle gegenwärtig in Amerika sind. An der preußischen Grenze selbst soll ein Herr Simon Herz diese Leute übernommen und über die Grenze mit einem Wagen expedirt haben“, heißt es im Protokoll abschließend.

Die Aussage scheint den Verdacht gegen den Auswanderungsagenten zu bestätigen. Aber wie hat er sich mit den Slowaken in Verbindung gesetzt? Hat er sie in Stare Stawy abgeholt? Wie hat er von ihrer Festnahme erfahren?

Diese Fragen bleiben ungeklärt. Jedenfalls steht der Verdacht im Raum, dass Simon Herz aus Otwiecim über auffallend gute Beziehungen zu gewissen Behörden verfügt.

Die Niederschrift der Vernehmung der Angehörigen wird von Komara Maria, Gattin des Komara Mathias, Virosztek Maria, Mutter des Virosztek Johann, Komara Maria, Mutter des Komara Jakob, und Popovic Johann, Vater des Popovic Paul, unterzeichnet. Einzig die Gattin des Komara Mathias unterschreibt eigenhändig, wenn auch etwas unsicher und zittrig, die anderen können bloß Kreuze unter das Protokoll setzen.

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Die Schreibung der Namen variiert von einem Dokument zum anderen. Einmal heißt es Paul Popowicz, dann Paul, Pál oder Pavol Popovic, Popovim, später auch Popovich oder Popovics, Mathias Komara und Maciej Komar, Jan Virosztek und Johann Virosztak oder auch Wirostak, das ist alles sehr irritierend für die Beamten, die sich redlich bemühen, den Überblick zu bewahren.

Die Verwirrung beginnt schon beim Ort, aus dem die vier Auswanderer stammen. Bis 1899 heißt er ungarisch Brutócz, danach, immer noch ungarisch, Szepesszentlörinc, deutsch wird er Brutowetz, aber auch Stenzelau oder Stenzelhaus genannt, die slowakischen Auswanderer nennen ihren Heimatort Brutovce, und ruthenisch – in dem Weiler sind auch Ruthenen, also Ukrainer, zu Hause – heißt er Brutivcy. Viele Namen für ein Kirchspiel mit rund 150 Seelen, überwiegend Slowaken katholischen Glaubens. Eine weiße, gemauerte Kirche mit einem gedrungenen Zwiebelturm, aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammend und dem heiligen Vavrinec, Laurentius, geweiht, dem Patron der Gemeinde, ein paar feste Steinhäuser, doch die meisten Gebäude bestehen aus Holz, man könnte sie eher Hütten nennen; sanfte Hügel, Wiesen, schmale Felder. Die Bauern von Brutovce leben nicht in Armut, doch sie müssen von früh bis spät ordentlich schaffen, auf den Feldern, bei der Grünarbeit, im Wald, im Stall, das Vieh kennt keinen Sonn- und Feiertag.

Zum Beispiel die Familie jenes Pál Popovic, eines der vier Männer, die im März 1888 vor der preußischen Grenze aufgegriffen werden. Als er zur Welt kommt, wohnen seine Eltern, János und Anna Popovic, geborene Milcsak, noch im Haus der Großeltern. Das Haus mit der Konskriptionsnummer 65 verfügt über zwei Schlafräume und eine Küche, zwei Keller, drei Ställe und eine Tenne, genügend Platz für die beiden im Haus wohnenden Familien, insgesamt sechs Personen, und das Vieh. Páls Großvater, Mihály Popovic, nennt laut Zensus vom Dezember 1869 zwei Pferde, Wal lache, zwei Ochsen und eine Kuh der ungarischen Rasse sowie eine Schweizer Kuh, zehn gewöhnliche sowie zwei Zuchtschafe und dazu noch zwei Esel sein eigen – Hühner, Enten und Gänse werden im Zensus nicht eigens gezählt. Für die Schweizer Kühe gibt es bei der Volkszählung eine eigene Rubrik, die sind etwas Besonderes, die geben mehr Milch als die ungarischen. Wer eine Schweizer Kuh im Stall stehen hat, gilt was im Dorf. Natürlich hat Mihály Popovic auch Felder, Weiden, Heuwiesen, eine Streuobstwiese ums Haus, einen Küchengarten – ein ansehnlicher Besitz, doch eine große Wirtschaft macht auch viel Arbeit.

 

©Zsolnay Verlag©

 

Literaturangabe:

POLLACK, MARTIN: Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien. Zsolnay Verlag, Wien. 2010. 288 S., 19,90 €

Weblink:

Zsolnay Verlag


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