Von Frauke Kaberka
Eine einsame zerlumpte Gestalt lässt sich ziellos die klippenreiche Küste Cornwells entlangtreiben, bis sie im Abgrund eine Leiche entdeckt. Der drei Meilen gegen den Wind stinkende Wanderer gleicht so gar nicht dem eleganten und vornehmen Inspektor Thomas Lynley von New Scotland Yard. Doch der in jahrelanger Polizeiarbeit geschulte Spürsinn Lynleys löst beim Anblick des Toten sogleich einen professionellen Mechanismus aus und blendet das persönliche Trauma des Inspektors aus - zumindest zeitweise.
Lange haben Fans von Elizabeth George auf die Rückkehr ihres charismatischen Ermittlers und seiner chaotischen Kollegin Barbara Havers warten müssen. Ihr 14. Auftritt allerdings ist anders als erwartet, denn die Scotland-Yard-Leute arbeiten hier unter dem Kommando einer regionalen Polizistin. „Doch die Sünde ist scharlachrot“ heißt der neue Roman der amerikanischen Autorin, die sich der Tradition der britischen Kriminalliteratur verschrieben hat. Er knüpft an den Vorgänger „Wo kein Zeuge ist“ von 2005 an, der mit dem gewaltsamen Tod Lynleys Frau und seines ungeborenen Sohnes endet.
Völlig aus der Bahn geworfen, quittiert der erfolgreiche Superintendent den Dienst und sucht sein Seelenheil in der Flucht. Sie endet nach 43 Tagen, nämlich an jenem unwirtlichen April-Tag, an dem Lynley – selbst am Rande eines Abgrunds wandelnd – die Leiche in der Tiefe entdeckt und die örtliche Polizei alarmiert – dies bizarrerweise nach einem Einbruch in ein Cottage, auf der Suche nach einem Telefon.
Der oberflächlich als Unfall getarnte Absturz eines 18-Jährigen entpuppt sich als Mord. Lynley muss seine wahre Identität preisgeben und wird gegen seinen Willen in die Ermittlungen einbezogen. Diese gestalten sich – auch für den Leser – als etwas zäher Prozess: George legt Spuren in alle Himmelsrichtungen. Geübte Krimileser ahnen aber schon bald – ebenso wie Lynley –, dass die Lösung in der Vergangenheit zu suchen ist.
Es ist eine Stärke der Autorin, den Menschen in die Seele zu blicken. Feinfühlig arbeitet sie psychologische Besonderheiten ihrer Protagonisten heraus: Die Qualen Lynleys, der zwar weiß, dass er vergessen muss, es aber nicht will und sich schämt, für Momente nicht an seine ermordete Frau gedacht zu haben, die Zerrissenheit der Polizistin Bea Hannaford, die sich von ihrem Mann getrennt hat, aber doch nicht ohne Partner sein will, die Leiden der Eltern des toten Jugendlichen, wobei diese noch einen besonderen Aspekt haben: Mutter nymphoman, Vater unfähig, sich aus dieser zerstörerischen Verbindung zu lösen. George räumt erotischem Verlangen und Sex in diesem Roman so viel Raum wie noch nie ein.
Es liest sich gut, das neue Buch der Autorin, auch wenn Landschaftsbeschreibungen und manche Begegnungen von Haupt- oder Randfiguren hätten gestrafft werden können. So sorgen sie nur für mäßige Spannung. Der ausgefeilte Stil Elizabeth Georges, ihre gründlichen Charakterstudien und die weitergesponnene Geschichte um den sympathischen Ermittler machen jedoch so manchen Makel wett und lassen auf einen weiteren Einsatz von Lynley und Co. hoffen.
Literaturangabe:
GEORGE, ELIZABETH: Doch die Sünde ist scharlachrot. Blanvalet Verlag, München 2008. 761 S., 24,95 €.
Verlag