Von Wilfried Mommert
Eine Mutter schenkt ihrem Sohn die Geschichte ihres Lebens. Und was für eine Geschichte. Eine junge Frau in der DDR, beruflich (als Krankenschwester) und politisch (als SED-Mitglied) engagiert, vielseitig interessiert, verliebt sich in einen Mann, der in den Westen abhaut. Nach längerem Zögern folgt sie ihm 1966 mit ihrem gemeinsamen Sohn auf abenteuerlichen Fluchtwegen – aus Liebe, aber mit starken Gewissensbissen gegenüber ihrer DDR. Sie habe aus Liebe die Partei verraten, wird sie später sagen, als sie erkennt, dass ihr Geliebter sich im Westen längst eine neue Familie aufgebaut hat.
Die Frau bleibt dennoch in der Bundesrepublik und schlägt sich als Alleinerziehende durch – immer noch Kommunistin. Ihr Sohn Ronald M. Schernikau wird später als der letzte Kommunist am 1. September 1989 den Weg zurückgehen und vom Westen in die DDR übersiedeln.
Rückblickend sagt Ellen Schernikau im Nachwort des Buches mit ihrer Lebensgeschichte, sie bereue nichts, auch wenn die ersten zehn Jahre für sie im Westen hart gewesen seien. Das Buch, in dem Irene Binz ihr literarisches Alter Ego ist, basiert auf den gemeinsamen Gesprächen, die ihr 1991 mit nur 31 Jahren an Aids gestorbener Sohn aufgezeichnet hat. Nun wurde es aus seinem Nachlass veröffentlicht.
Eine Biografie des Sohnes und Schriftstellers hatte im letzten Jahr Matthias Frings unter dem Titel „Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau“ im Aufbau Verlag veröffentlicht. Der schöne Kommunist, der als junger Autor mit der „Kleinstadtnovelle“ auf sich aufmerksam machte, wäre am 11. Juli 50 Jahre alt geworden.
Der offenherzige Bericht der Mutter ist in seiner oft stenografisch-kurzatmig anmutenden Form vielleicht nicht immer einfach zu lesen, entpuppt sich aber für den Leser, je länger er sich in die deutsch-deutschen Liebes- und Gesellschaftswirren vertieft. Eine ebenso berührende Mutter-Sohn-Geschichte wie auch der abenteuerliche Lebensweg einer mutigen Frau, die enttäuscht wird und weiter kämpft – für sich, ihren Sohn, bessere Arbeitsbedingungen für ihre Kollegen und überhaupt für eine bessere Welt, manchmal naiv, manchmal trotzig und immer wieder mutig beharrend.
Sie träumt bis heute ihren sozialistischen Traum und verschweigt doch nicht die Schattenseiten der damaligen DDR-Wirklichkeit. Und sie übt auch ganz persönliche Selbstkritik, zum Beispiel daran, dass sie ihren Sohn so früh in die Krippe gegeben hat. Nur alle zwei Wochen konnte sie ihn nach Hause holen, den Sohn, den sie im Westen nach ihrem geplatzten Familientraum immer in den Arm nehmen und sagen wollte: „Du, hör mal, das ist jetzt alles schief gelaufen, der Papi will uns eigentlich gar nicht mehr; und jetzt müssen wir beide mal sehen, was wir daraus machen.“
So gesehen ist das Buch in einigen persönlichen Passagen oft aufschlussreicher als so manche theoretischen deutsch-deutschen Lehrbücher über Vor- und Nachteile gegensätzlicher Gesellschaftssysteme. Der Grundfehler der DDR sei die Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen, meint die Frau im Buch. Dazu komme die Doppelzüngigkeit vieler Menschen, und ihr Umgang mit der Jugend, die immer aufmüpfig sein muss. Das sei normal, wenn man anfängt zu denken, dafür dürfe man niemanden von der Schule schmeißen – und das sei leider passiert. Trotz mancher Tiefschläge im Westen betont sie schließlich: „Ich bin jetzt Bundesbürger und ich will, dass sich hier was ändert. Ich bleibe hier.“
Literaturangabe:
SCHERNIKAU, RONALD M.: Irene Binz. Befragung. Rotbuch Verlag, Berlin 2010. 220 S., 16,95 €.
Weblink: