BERLIN (BLK) – „Das Leben ist so lang wie eine Tür, die sich öffnet und schließt“, schrieb der irische Dramatiker Samuel Beckett. Dieses Zitat wurde im Literaturhaus Berlin am Samstagabend (27. April 2008) wörtlich genommen und so traten die Gäste mit der Schwelle des Veranstaltungsraumes direkt in das Werk und die in ihm evozierten Stimmungen und Emotionen des Nobelpreisträgers.
Veranstalterin Blanche Kommerell, die als Schauspielerin unter anderem durch „Jakob der Lügner“ bekannt wurde, gab zu, sich anfänglich auch nicht ganz an Beckett herangetraut zu haben. Damit ging es ihr wohl genauso wie einem Großteil, wenn nicht dem gesamten Publikum, dessen etwas verschüchterte Blicke allmählich der Entspannung wichen. Zuerst plauderte Kommerell etwas über Becketts Leben und die Widersprüche, die sich in ihm vereinen. Dem Betrügen seiner Frau, das ihm lange Schuldgefühle bereitete; der Liebe zu seinen Eltern, der er nie richtig Ausdruck verleihen konnte und seinen Kämpfen in der Resistance, über die er unter Lebensgefahr Schweigen bewahren musste.
Impressionen und Expressionen über und aus Becketts Werk wurden dabei von Tilmann Dehnhard auf verschiedenen Flöten begleitet. Seine Improvisationen versetzten in die mystische und fast andächtige Atmosphäre einer irischen Nebellandschaft, in dessen düsterer Weite nicht nur Becketts Lebenssinn zu versinken schien. Virtuoser waren allerdings die Textpassagen, die – mal geschrien, mal geflüstert – den Beckettschen Bogen von der absurden Sinnlosigkeit des Daseins über aufmüpfige Wutanfälle bis hin zu Berichten seiner Großzügigkeit und Menschlichkeit schlugen.
„Ich werde endlich doch bald ganz tot sein“, um diese ersten Worte dreht sich „Malone stirbt“, der Roman, der den Großteil der Lesung einnahm. Aus den letzten Reflektionen des im Sterben liegenden Malone las Kommerell über Liebe und Leid am Spielen und Sterben. Dass sich sogar Molls Liebesbriefe um den Wunsch des gemeinsamen Sterbens drehen, verbindet Freude und Trauer und raubt dem Leben als Verschmelzung von Gegensätzen seinen Sinn.
Die ausgewählten Textpassagen waren überraschend bekömmlich und – gemessen an zweifellos vorurteilsbelasteten, aber doch allgemeinen Vorstellungen von Becketts Werk – auf eine seichte Art und Weise schön. Niemand vegetierte in einer Mülltonne vor sich hin und niemand plante, sich an einer Trauerweide zu erhängen, weil Godot nicht kommt. Und obwohl Beckett nicht an Gott glaubte, schenkte er seiner Putzfrau eine Zigarettenkiste voll Münzen für die Mutter Gottes. Auch die aufmerksamen und zärtlichen Beschreibungen der irischen Kindheit zeigten Beckett als einen Philanthropen.
Blanche Kommerell hat vier Semester lang mit ihren Studenten Beckett gelesen. Man merkte, dass sie seine Texte gerne vorliest. Ihre enthusiastische Lesart und ihre charmante Freude gaben den Texten dabei eine fast märchenhafte Qualität, die allerdings auch die philosophischen Bedeutungen zugunsten der ästhetischen Komponenten verharmlosten.
Über dem Literaturhaus ging langsam die Sonne unter, während die Querflöte schüchtern trällerte, Becketts Vater wanderte, seine Mutter hilflos liebte und Beckett schrieb, um atmen zu können. In dem weiten Veranstaltungssaal plätschert Becketts Leben an den leider nur wenigen Gästen vorbei; nicht orkanartig, aber entspannt rieselnd. Die einzige Dekoration des Raumes stellte ein heller, kleiner Reiskoffer dar. Auf ihm stand eine Blumenvase mit weißen Rosen, aus dessen Strauß auch die Vortragenden am Ende eine bekamen. Und so wie mit dem Koffer verhielt es sich auch mit der Lesung. Das Leben ist eine Reise, die unweigerlich im Tod endet und auf ihn hinarbeitet. Was ist dann also der Sinn des Lebens? Wie kann es so etwas überhaupt geben? Auch wenn die Lesung diesen Fragen nicht nachging – sie wusste sie ästhetisch herzurichten und zu dekorieren.
Von Nora Lassahn