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Irre, Idioten und Gemütskranke: Psychiatrie-Geschichte in alten Akten

Es sind helle und dunkle Kapitel aus Medizingeschichte und Gesellschaft, die sich in der ungewöhnlich großen Sammlung von Klinik-Akten widerspiegeln

© Die Berliner Literaturkritik, 23.07.08

 

Von Ulrike von Leszczynski

BERLIN (BLK) – Die russische Zarentochter Anastasia Romanowa zählte zu den prominenten Patienten des heutigen Vivantes-Klinikums in Berlin-Reinickendorf. Nun ja – nicht ganz: Es war die polnische Fabrikarbeiterin Franziska Schanzkowski, die sich für Anastasia ausgab. Die junge Dame, die Retter aus dem Landwehrkanal gezogen hatten, dürfte bis zu ihrer „Enttarnung“ die damalige „Städtische Irren- und Idioten-Anstalt“ dennoch mächtig in Atem gehalten haben. Ihr Fall ist nur ein winziges Puzzlestück im Akten-Schatz, den der Vivantes-Konzern an diesem Montag (21. Juli 2008) dem Berliner Landesarchiv übergibt. 90.000 Dokumente aus 80 Jahren Psychiatriegeschichte (1880-1960) warten dann am zentralen Ort auf neue Forscher.

Es sind helle und dunkle Kapitel aus Medizingeschichte und Gesellschaft, die sich in der ungewöhnlich großen Sammlung von Klinik-Akten widerspiegeln. Die ältesten Dokumente aus dem 19. Jahrhundert sind noch in krakeliger Sütterlin-Schrift verfasst und mit Fäden geheftet. 1880 eröffnete die „Anstalt“ auf dem Gelände des heutigen Humboldt-Klinikums. „Die Einrichtung war damals ein Fortschritt“, berichtet Vivantes-Psychologin Christina Härtel. Denn zuvor lebten Menschen mit Wahnvorstellungen, Angststörungen oder Süchten in Asylen, manchmal auch im Gefängnis. „Irre“ nannte man sie, „Idioten“ oder „Gemütskranke“.

Modern im heutigen Sinne war die Hilfe für psychisch Kranke damals noch nicht. „Es gab noch kein ausgefeiltes Diagnosesystem, kein diagnostisches Instrumentarium, keine Psychotherapie und gar keine Medikamente“, sagt Härtel. Es gab nur Zwangsjacken, Bettgurte, riesige Bettsäle – und viel Hilfslosigkeit bei der Behandlung. 1000 Menschen bot die „Anstalt“ am Anfang Platz. Seit 1925 nannte sie sich „Wittenauer Heilstätten“, ab 1957 dann „Karl Bonhoeffer Nervenklinik“. Die Berliner, mit ihrer Vorliebe für Spitznamen nannten sie kurz „Bonnis Ranch“.

Auch das dunkelste Kapitel der Klinik, die Zeit des Nationalsozialismus, ist in den Akten dokumentiert. Es waren zwölf Jahre, in der Ärzte und Pflegepersonal schwere Schuld auf sich luden. Ohne Widerstand verantworteten sie, dass Tausende ihrer Patienten in die Gaskammern oder Tötungsanstalten transportiert wurden. Sie ließen zu, dass Medikamentenforschung an ihren Schutzbefohlenen betrieben wurde. Sie töteten aggressive oder inkontinente Patienten sogar selbst, berichtet Härtel. Fingierte Diagnosen sollten über diese Morde hinwegtäuschen. Bestraft worden sei dafür nach dem Krieg niemand, ergänzt sie. Und so manche Akte, die Unmenschlichkeit und Unrecht festhielt, sei später spurlos verschwunden.

Noch bis in die 80er Jahren wurde über diese heikle Vergangenheit geschwiegen. Pilze machten sich in den feuchten Archivkellern breit, Säure fraß an den Akten. Doch sie halfen immer noch dabei, ein Buch über die Klinik in den Jahren 1933 bis 1945 entstehen zu lassen. Auch Schriftsteller Walter Kempowski nutzte Patienten-Dokumente für ein Kapitel seines großen Tagebuch-Projekts „Echolot“. Und zahlreiche der „Stolpersteine“, die heute im Berliner Straßenpflaster an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern, basieren auf Informationen aus dem Klinik-Archiv.

Bis zum Akten-Jahrgang 1960 zieht dieser Schatz nun geschlossen ins Landesarchiv um. „Für Forscher gibt es in dieser Sammlung immer noch viel zu holen“, urteilt Härtel. Nur das Rätsel um die falsche Anastasia sei leider nicht mehr ganz zu lösen. Die Akte aus den 20er Jahren hat zwar noch einen Deckel – doch der Inhalt fehlt.


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