Berlin (BLK) – „Der Wiederträumer“ ist der dritte Roman des 32-jährigen Israelis Nir Baram.Das Buch, das sich in Israel rasch zu einem Bestseller entwickelte ist im Schöffling & Co Verlag erschienen.
Klappentext: Joel entdeckt als Kind, dass er eine besondere Gabe besitzt: Er kann die Träume anderer mitträumen und sie ihnen wiedergeben. Als Joel Jahre später seiner Frau von seiner Gabe erzählt, nimmt ein verhängnisvolles Geschehen seinen Lauf: Rachel will fortan nur noch träumen, wird geradezu süchtig danach, sich die nächtlichen Bilder von ihm in lebhafte Eindrücke verwandeln zu lassen. Ein Spiel mit dem Feuer vor der Kulisse eines monatelangen sintflutartigen Sturms im heutigen, fantastisch verfremdeten Tel Aviv.
Auch die Zwillinge Alon und Lior vergreifen sich an der Erinnerung und wollen das Rad der Zeit zurückdrehen: Sie weigert sich, die symbiotische Beziehung zu ihrem Bruder aufzugeben, er trauert einer vergangenen Liebe nach und versucht der Gegenwart zu entfliehen. Die Schicksale beider Paare kreuzen sich mit dem eines »Bettlerkönigs«, der die Manipulationen des Traumgedächtnisses ausbeutet und unter geheimnisvollen Umständen ermordet wird. Vor dem apokalyptischen und zugleich alltäglichen Hintergrund seiner Erzählung entfaltet Nir Baram in einer poetischen Sprache voller Witz und Ironie ein figurenreiches Panorama der israelischen und palästinensischen Gesellschaft.
Der israelische Schriftsteller Nir Baram 1977 in Jerusalem geboren und hat mit „Der Wiederträumer“ bereits seinen dritten Roman veröffentlicht. Genauso wie sein literarisches Debüt „Purple Love Story“ ist auch „Der Wiedergänger“ ein Bestseller in seinem Heimatland Israel. Nir baram stammt aus einer Politiker-Familie und engagiert sich für den Frieden in Israel und die Gleichberechtigung der Palästinenser.
Leseprobe:
©Schöffling & Co Verlag©
Er lag an der Seite des eingerollten, reglosen Körpers, von dem er sich verraten fühlte. Joel Kadmon, dem Wiederträumer, schien es, als ob sich ihr Körper starr und protestierend von ihm abwende. Manchmal war ihr Schlaf ein Varieté aus Schaukelbewegungen, dumpfen Reflexen, Flüstertönen, Schmatzen, sogar von amüsanten Verwünschungen. Während des Schlafs führte Rachel immer eine zügellose, laute Existenz. Von weitem hörte er eine Sirene heulen. Er schleppte sich zum Fenster und sah unweit der Allee eine Ambulanz halten. Näher konnten sie wegen des Hochwassers auf der Straße nicht heranfahren. Einige Leute sprangen aus dem Wagen und tauchten in die Allee ab, menschliche Schatten. Das Sehen fi el ihm schwer, deshalb konzentrierte er sich auf die gedämpften Laute. Die Leute mit der Trage waren schon da, hoben den toten Körper auf und legten ihn darauf ab. Sein Blick blieb an der Allee hängen, an dem Wenigen, das für ihn noch sichtbar war: die hin und her laufenden Schatten und der eingerollte tote Körper. Für den Bruchteil einer Sekunde fi el ein eigenartiges Licht auf die Allee, weiß der Teufel, woher es kam, und für einen Augenblick verharrte sein Blick auf dem Toten, bohrte sich in ihn hinein. Ein Albtraumbild blitzte in ihm auf, sein Körper erschauerte und schon war die Allee wieder dunkel und der Leichnam verschwunden.
Der Blick des Wiederträumers wanderte vom geräumigen Balkon im dritten Stock zum Himmel über der verregneten Stadt. In seiner Erinnerung breitete sich ein dichtes Netz aus Tausenden von Sternen aus, glänzend wie damals in seiner Kindheit über dem Wadi an der südlichen Grenze. Einladend sah das aus, die Himmelskuppel mit ihren erhabenen Sternen – es schien, als schmiegte sie sich an den oberen Rand des Gebäudes. Das Ewigkeitsgefühl schützte seine bloßen Gliedmaßen vor den Böen einer neuerlichen Jerusalemer Unwetterfront. Nacht um Nacht war der Balkon, waren das Wadi und die Sterne an ihrem Platz verankert. War es nicht kindische Vermessenheit, zu glauben, der blau getönte Teppich, übersät mit den Diamanten der Nacht, werde sich auch noch in ein oder zwei Jahren ihm zu Ehren entfalten? Konnte denn irgendetwas den Strom der Zeit bezwingen und genau das bleiben, was es gewesen war? Als Kind erträumte er sich phantastische Dinge wie die Vernichtung der widerlichen Beth-Hakerem-Gemeinde, aber genauso innig wünschte er, sie möge genau das bleiben, was sie war. Nachdem er zwanzig geworden war, zog er mitten in eine dicht bevölkerte Wohnsiedlung Tel Avivs. Die Stadt am Meer war das Mekka der Israelis, die sich mehr und mehr verwestlichten. Sie alle klopften an ihre Tore. Darunter waren diejenigen, die ihre Jugend in den Vorstädten verbracht und sich immer nach ihr verzehrt hatten. Sie glaubten an ein stürmisches Leben dort. Darunter waren aber auch diejenigen, die von der Furcht getrieben wurden, sie könnten abgehängt werden, und schließlich auch solche, die wie er selbst jede Erinnerung an ihre Kindheit spurlos tilgen wollten, um neu geboren zu werden.
Manchmal traf er auf der Straße Bekannte von damals. Die meisten von ihnen hatten die Gelegenheit zur Wiedergeburt genutzt. Die Schöngeister und die Gewitzten hatten ihre Vergangenheit, die er nur allzu gut kannte, den gegenwärtigen Erfordernissen von Tel Aviv angepasst.
Sie schilderten ihr Heldenleben als glatten, einheitlichen Ablauf ohne Lücken. Die Schlichteren betonten unverfroren die neuen Manieren, die ihre reorganisierte Persönlichkeit sichtbar machten, und quasselten viel in einem Jargon, mit dem sie Kindheit und Herkunft verleugneten. Er hingegen, der böse Bube der Gemeinde von Beth-Hakerem, hatte sich als Kind damit getröstet, ausgegrenzt zu sein, sich genetisch von den anderen zu unterscheiden, die ihre Kindheit meist in starrem Gehorsam gegenüber ihren Eltern verbrachten. Das war eine Illusion, wie sich herausstellte. Die kleinlichen Einzelheiten, die alle zur menschlichen Existenz gehören, verschreckten ihn. Ganze Tage beschäftigte er sich mit Wasser- und Elektrizitätsrechnungen, errechnete Steuern und verplante sein Geld für Einkäufe oder Vergnügungen. Seine berufliche Zukunft machte ihm Angst, das Gebirge der Alltäglichkeiten drohte ihn zu erdrücken. Für andere waren es Schritte in eine faszinierende Zukunft, für ihn nur die nackte Tatsache, irgendwie weiterzuexistieren.
In den ersten zwei Jahren in Tel Aviv hatte er die fixe Idee, alles, was er erreicht hatte, werde am nächsten Tag oder in der nächsten Woche verschwunden sein. Ungeachtet des Bewusstseins dessen, was er erreicht hatte, erwachte er jeden Morgen in einer Welt, in der es keine Gewissheiten gab, nicht eine einzige Gewissheit.
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Literaturangabe:
BARAM, NIR: Der Wiederträumer. Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer und Harry Oberländer. Schöffling & Co Verlag, Frankfurt am Main 2009. 477 S., 24,90 €.
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