Von Carsten Hoffmann
ISTANBUL (BLK) - Eine schwere Explosion zerreißt im Juli 1998 in Istanbul das geschäftige Treiben im Ägyptischen Basar. Sieben Menschen sterben in dem am Goldenen Horn gelegenen Handelsplatz, darunter auch drei Kinder. Erste Untersuchungen der türkischen Polizei deuten auf eine Gasexplosion hin, einen Unfall also. Doch kurz darauf wird die damals 27 Jahre alte Soziologin und Schriftstellerin Pinar Selek zusammen mit anderen als Attentäterin festgenommen.
Unterstützen Sie dieses Literaturmagazin: Kaufen Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen - es geht ganz einfach und ist ab 10 Euro versandkostenfrei! Vielen Dank!
Selek lebt inzwischen im Exil in Berlin, wo sie als verfolgte Autorin vom deutschen PEN-Zentrum unterstützt wird. Die türkische Justiz kann ihr praktisch nichts anhaben. So sahen Menschenrechtler und EU-Politiker den Prozess gegen Selek, der am Mittwoch (9.2.) in Istanbul neu begonnen wurde, eher als Test für die Rechtsstaatlichkeit der Türkei. Und zum dritten Mal in Folge stellte das Gericht am Mittwoch (9.2.) die Unschuld Seleks fest und stellte sich damit gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtes.
Denn Gutachter haben mehrfach festgestellt, dass es keine Spuren von Sprengstoff in dem Markt gab und ein Gasleck der wahrscheinlichste Grund für die Explosion war. Selek aber war festgenommen, als Bombenlegerin angeklagt und zweieinhalb Jahre inhaftiert worden. Ein Mitangeklagter belastete sie unter Folter. Nach eigenen Angaben wurde auch sie selbst schwer misshandelt.
Selek beschäftigte sich damals wie heute mit dem ungelösten Konflikt um die Rechte der Kurden in der Türkei, mit der Minderheitenpolitik und den Geschlechterrollen in dem Land. Mehrere Menschenrechtsorganisationen sind überzeugt, dass sie vor allem deswegen verfolgt wurde und die türkische Justiz jetzt nicht mehr von ihr ablassen will.
Ende November war bekanntgeworden, dass das Oberste Gericht in Ankara den Fall zurück an das Gericht in Istanbul verwiesen hat, nachdem auch ein zweiter Freispruch aufgehoben worden war. Die höchsten Richter legten eine juristische Meinung bei, nach der sie eine lebenslange Haftstrafe unter erschwerten Bedingungen für nötig halten.
Nach zwei Freisprüchen sei der von der höchsten Instanz verordnete dritte Versuch einer Verurteilung Seleks „ein Hohn auf die Gerechtigkeit“, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. „Der Prozess gegen Pinar Selek ist eine Perversion der Strafjustiz und ein Missbrauch der Rechtsstaatlichkeit“, sagt Emma Sinclair-Webb, Türkei-Expertin der Organisation. Für Bedenken wegen einer politischen motivierten Strafverfolgung in der Türkei gebe es sehr gute Gründe.
Der Prozess erinnert an den Fall des in Köln lebenden Autors Dogan Akhanli, der bei der Einreise im vergangenen August festgenommen worden war. Ihm war vorgeworfen worden, 1989 an einem Raubmord auf eine Wechselstube in Istanbul beteiligt gewesen zu sein. Vor dem Richter korrigierten einige Zeugen, was in den Polizeiakten über angebliche frühere Aussagen festgehalten worden war. Ein Mann schilderte eindringlich, wie er misshandelt und unter Druck gesetzt worden war.
Akhanli kam auf freien Fuß, weil es an Beweisen fehlte, und konnte nach Deutschland zurückkehren. Die türkischen Behörden verhängten allerdings ein Einreiseverbot. Der Grund: Er habe sich ohne gültiges Visum als deutscher Staatsbürger länger als drei Monate in der Türkei aufgehalten