Wer im vergangenen halben Jahr italienische Zeitungen las, der konnte auf die Idee kommen, hier herrsche ein reges kulturelles Leben: kaum eine Stadt, sei sie klein oder groß, die nicht mit einer Ankündigung oder einer Anzeige zu einer besonderen Ausstellung oder einer Tagung aufwartete - von der Kunst-Biennale in Venedig bis zu einer philosophischen Tagung in Sarzana.
Umso mehr erstaunen einen die Proteste Kulturbeflissener gegen die radikalen Kürzungen, die Italiens Regierung - allen voran ihr Kulturminister Sandro Bondi - im Parlament durchgesetzt hat. Bondi ist ein ehemaliger Maoist. Er hat sich langsam in sein Amt vorgerobbt, vermutlich weil er in seiner Freizeit Verse schreibt, vor allem Lobgedichte auf seinen Chef Silvio Berlusconi. Auch wenn der eher durch internationale Hanswurstereien und ein ausschweifendes Sexleben auffällt als durch ein Interesse an Kultur. Den Rotstift setzt derweil sein Finanzminister Giulio Tremonti bei Ausgaben für Kultur, Erziehung und Bildung an.
Viele der Veranstaltungen sind für Touristen angesetzt und oft von geringem Niveau.
Wie passt das zusammen? Gar nicht. Und dennoch stimmt beides: Die tiefe Verachtung der Regierung gegenüber Kulturschaffenden einerseits, wie die in aller Regel örtlichen Bemühungen andererseits, so etwas wie eine kulturelle Fassade vor die unsäglichen Veranstaltungen der Fernsehsender des großen Bosses zu hängen. Viele der Veranstaltungen sind freilich für Touristen angesetzt und oft von geringem Niveau. Andere wenden sich an den Teil des Volkes, der noch des Lesens und Zuhörens willens ist. Zum Beispiel die zahlreichen Kongresse zu intellektuellen oder naturwissenschaftlichen Themen. Oder die Dichterlesungen: wenn Roberto Benigni auf öffentlichen Plätzen die ganze „Göttliche Komödie" Dantes vorträgt, garniert mit witzigen und boshaften Kommentaren zu aktuellen Ereignissen, hat er ein großes Publikum. Auch sonst sieht man immer wieder dieselben Namen: Es ist alles in allem ein Minderheitenprogramm. Finanziert wird es aus Gemeindekassen und von Stiftungen - vor allem der Banken. Es wendet sich an ein verunsichertes, immer kleiner werdendes Bürgertum, das die „postmoderne" Spaßgesellschaft eines Regierungschefs verabscheut, dessen musikalische Neigungen sein neapolitanischer Schlagersänger Apicella bei weitem erfüllt. In den Verlagen erscheinen jeden Monat neue Romane, Gedichtbände, Essays - und einige werden gar zu Bestsellern. Die Zahl der Buchhandlungen selbst in kleinen Städten ist noch ziemlich groß. Um die Literaturpreise gibt es immer wieder spannendes Gerangel der großen Verlage. Sie scheuen keine Mühe und keinen Trick, um nominiert zu werden und am Ende einen Preis für ihren Autor einzuheimsen. Diese Klüngelei schafft es oft auch in die Feuilletons der Zeitungen.
Wir lesen aber ebenso von einer hirnrissigen Idee der Erziehungsministerin Gelmini. Sie fordert, Kindern als gleichberechtigte „Erstsprache" Unterricht in den örtlichen Dialekten zu erteilen. Dabei ist deren Gebrauch allenfalls den Rentnern noch geläufig. Zudem sollen Nachrichten bei einem Fernsehsender der „Lega Nord" im Dialekt der „Padana" laufen. Diesen Dialekt gibt es nur zwischen Piemont und Veneto – und dort in sehr verschiedenen Ausprägungen. Immerhin schlägt Gelmini dazu auch Untertitel vor. Sonst verstünde das ja auch kaum jemand.
Forderungen wie die Gelminis haben mit den immer wieder auftauchenden sezessionistischen Anwandlungen dieser xenophoben Lega und ihres Volkstribunen Bossi zu tun. Der presst mit derlei Folklore der Zentralregierung Föderalisierungsmaßnahmen zugunsten der nördlichen Provinzen und gegen den Süden des Landes ab.
Derweil versucht die Zeitung des Industriellenverbands „Sole Ventiquattro Ore" jeden Sonntag in einem sehr ausführlichen, glänzend redigierten Feuilleton mit großen Aufsätzen und kompetenten Kritiken, die italienische Hochkultur zu beschwören: vornehmlich die der Vergangenheit.
Die Regierung duldet intellektuelle Kritiker so lange, wie Berlusconi nicht offen kritisiert wird.
Intellektuelle reagieren auf dieses bunte Treiben der Gegensätze mit einer Mischung aus Wut, Ironie und Resignation – wissen sie doch genau, dass sie die Clowns vor dem Vorgang sind, hinter dem die „Wirklichkeit" sich abspielt. Die Regierung duldet intellektuelle Kritiker so lange, wie Berlusconi nicht offen kritisiert wird. Wenn das passiert, schlägt er zu - selbst wenn es um den Chefredakteur der katholischen Tageszeitung „Avvenire" geht. Ihn kosteten ein paar eher milde moralische Ermahnungen an die Adresse Berlusconis das Amt. Dass dabei die italienische Bischofskonferenz, die „Avvenire" herausgibt, in einen diplomatisch verpackten Streit mit dem Vatikan geriet, dem mehr an einigen auf der parlamentarischen Agenda stehenden kirchlichen und finanziellen Interessen gelegen ist als an einem Journalisten, das ist die bittere Pointe dieser Geschichte.
Fazit: das „bel paese" ist tief gespalten: eine Mehrheit, die ihre politischen und kulturellen Informationen ausschließlich aus dem Fernsehen bezieht (mehr als 70 Prozent); und einer Minderheit, die besser informiert sein will und die nur noch von ganz wenigen aufrechten Blättern mit guter Finanzausstattung (vor allem der Gruppe „Repubblica/Espresso") bedient wird, während selbst die beiden anderen national verbreiteten Blätter „Corriere della Sera" und „La Stampa" inzwischen meist bei Fuß gehen und das „Dritte Programm" des staatlichen Rundfunks und Fernsehens RAI (früher „Telekabul" genannt und heute als „Indianer-Reservat" verspottet) gerade von allem gereinigt wird, was Berlusconi und den Büchsenspannern in seiner Partei „Popolo delle libertà" nicht passt.
Die Linke ist unterdessen heillos zerstritten. Sie wird geführt von Politikern, die häufiger gegeneinander als gegen den gemeinsamen Gegner zu Felde ziehen. Dem Spiel Berlusconis sieht sie hilflos zu. Dies alles drängt die Kultur in Nischen zurück, wo sie mit großer Mühe den Anschein aufrechterhält, ihre Themen und Ansichten zählten noch etwas. Dabei wird die Minderheit, die sie zur Kenntnis nimmt, immer kleiner – und die Gelder, die Kulturschaffenden zur Verfügung stehen werden immer weniger. Ihre Anstrengungen mögen heroisch sein, der Effekt ist allenfalls das, was man auf Englisch „window dressing" nennt. Sie zählen nicht wirklich. Mindestens so lange nicht, wie Silvio Berlusconi und seine Kohorten regieren. Und das kann noch eine längere Zeit dauern, auch wenn sich überall Risse in dessen Koalition zeigen und längst über Nachfolgeregelungen spekuliert wird. Aber in Italien wird viel spekuliert und Verschwörungs- und Verrats-Pläne sind dort gang und gäbe – seit den Zeiten der alten Römer.